Hier handelt es sich um ein Jugendbuch, das auch für Erwachsene lesenswert ist.
Der Roman hat alles, was eine giute Abenteuergeschichte braucht, die Charaktere sind realistisch gezeichnet, ihr Verhalten und ihre Gedanken nachvollziebar. Soweit ich es beurteilen kann, ist der historische Hintergrund korrekt, und es ist geradezu eine Wohltat, daß die Autorin auf Anachronismen verzichtet hat, gerade was die Weltanschauung ihrer Charaktere betrifft.. Außerdem schafft sie es, glaubwürde männliche Protagonisten zu schildern, die weder hirnlose Machos noch, im übertragenen Sinn, "verkleidete Mädchen" sind (was heute der Standard zu sein scheint.).
Beim Wiederlesen nach Jahrzehnten sind mir ein paar Passagen aufgefallen, die mich wegen ihrer Aktualität fast erschreckt haben:
1. Kapitel -- Die Grenzfestung:
"Die Grenzstämme (...) sind wild und außerordentlich tapfer. Aber sogar sie haben fast alle eingesehen, daß wir keine bösen Teufel sind, und sie wissen, daß es sinnlos ist, die römische Festung hier zu zerstören, weil sie mit einem Feldzug bestraft würden, in dem ihnen die Häuser und das Korn auf den Feldern verbrannt würden und sie eine stärkere Besatzung bekämen, die schärfer durchgreifen würde. Aber wenn einer von ihren heiligen Männern auf sie einredet, dann ist das alles wie vom Wind davongeblasen. Sie denken nicht mehr an die Folgen ihres Aufstandes, sie sind überhaupt nicht mehr imstande zu denken. Sie halten ihren Göttern die Treue, indem sie ein Nest von Ungläubigen ausräuchern, und was hinterher geschieht, geht sie nichts mehr an, weil sie auf der Straße der Krieger nach Westen der Sonne nachziehen. Und wenn Menschen in solch einem Zustand sind, dann zieht leicht ein Unheil herauf. "
7. Kapitel -- Zwei Welten:
"Aber all die Dinge, die von Rom kamen, waren doch gut?" fragte Marcus. "Gerechtigkeit und Ordnung und gute Straßen -- das war doch etwas!"
"Das ist alles gut", stimmte Esca zu. "Aber der Preis ist zu hoch."
"Der Preis? Die Freiheit?"
"Ja -- und mehr als die Freiheit."
(...) Wir wissen, daß euer Recht besser ist als unseres, und wenn wir uns dagegen erheben, erleben wir, daß unser Ansturm an der Disziplin eurer Truppen zerschellt wie eine Welle am Felsen. Aber wir verstehen das nicht, (...) Wir verstehen euch nicht. Und wenn die Zeit kommt, daß wir eure Welt zu verstehen beginnen, dann geschieht es nur allzu leicht, daß wir unsere eigene Welt nicht mehr verstehen."
(...)
Zwischen dem geformten Muster auf seiner Dolchklinge und der ungeformten und doch eindringlichen Schönheit des Schildbuckels lag eine tiefe Kluft, die zwei Welten trennte. Und dennoch wurde die Kluft zwischen einzelnen Menschen, Menschen wie Esca und Marcus und Cottia so schmal, daß die Hände sich in der Mitte berührten.
Ich sage nur: diverse Golfkriege, Bundeswehreinsätze in Afghanistan und Mali, 70 Jahre Konflikt und Kriege zwischen Israel und den Palästinensern, "Systemkampf" zwischen China und "dem Westen", "kulturelle Aneignung", AFD ...
Die Zitate stammen aus meinem alten dtv-Junior Band von 1984, Übersetzung von Ilse Wodtke (ISBN 3-423-07012-9).
Und jetzt kommt das große Aber!
Das Buch wurde 2010 oder 11 neu übersetzt. Und diese neue Übersetzung ist eine Katastrophe. (Ich vermute, daß aus irgendwelchen Gründen versehentlich eine Rohfassung an den Verlag geschickt und der Fehler nicht bemerkt wurde. ) Wie dem auch sei, das Ergebnis ist ein nahezu unlesbares Buch. Unbeholfener, deutlich am englischen Text orientierter Satzbau, falsche Wiedergabe militärischer und sonstiger Fachausdrücke (manchmal nur halb übersetzt) , Liedtexte in Prosa und etliche nicht korrigerte grammatikalische und sachliche Fehler. Wenn ich damals mit acht Jahren diese Fassung vorgesetzt gekriegt hätte, wäre das Buch spätestens nach dem ersten Kapitel im Papierkorb gelandet und ich hätte wahrscheinlich nie wieder einen historischen Roman angefaßt.
Ich kann nur jedem empfehlen, entweder das englische Original zu lesen, obwohl das für die Altergruppe ganz schön anspruchsvoll ist, oder zu versuchen, über Flohmärkte, Antiquariate usw. die alte Übersetzung zu ergattern. Es wäre jammerschade, sich durch die verpfuschte Neuausgabe diese großartige Geschichte entgehen zu lassen.