Rezension zu "Die Masken der Sexualität" von Camille Paglia
In der 70er Jahren des 20sten Jahrhunderts traten Alice Schwarzer (Der kleine Unterschied) und Esther Vilar (Der dressierte Mann) in Fernseh-Talkshows gegeneinander an. Die eine Autorin sah in den Frauen das unterdrückte Geschlecht, die andere stritt auf Seiten der Männer. Das die Wahrheit in der Mitte liegt, war damals mein Eindruck, und in "Die Masken der Sexualität" Camille Paglia, Mitte der 80er erschienen, fand ich meine geistige Heimat.
Dreißig Jahre später in 2023 hat sich die in den Medien omnipräsente Alice Schwarzer von einer Radikalemanze zur Putin-Versteherin gewandelt und verbreitet Verschwörungstheorien. Esther Vilar hingegen, aus einer jüdischen Familie stammend, engagierte sich in der Giordano-Bruno-Stiftung, studierte Medizin, Psychologie und Soziologie, schrieb weitere Bücher, auch Romane, und Theaterstücke. Die empfindet sich nicht als Frauen- oder Männerrechtlerin, sondern als Menschenrechtlerin, siehe Interview von 2021:
Camille Paglia, amerikanischen Hochschulprofessorin, die sich als bisexuell bezeichnet und ihre Kinder in einer lesbischen Ehe großzieht, wehrt sich einerseits entschieden gegen die Vereinnahmung der Frauenemanzipation durch den radikalen Feminismus, und andererseits gegen Vereinnahmung durch neurechte Verlage, wie 2018 in Deutschland geschehen:
https://www.zeit.de/kultur/literatur/2018-04/camille-paglia-antaios-feminismus-rechtes-denken
"Die Masken der Sexualität" ist lesenswert, gerade heutzutage, in einer Zeit des Lagerdenkens. Hier ein kurzes Interview mit der Autorin vom Januar 2023:
AUS DER BESCHREIBUNG DES VERLAGS: "Am Anfang war nicht das Wort, sondern die Natur - damit beginnt Camille Paglias großartige Revision des westlichen Kulturbegriffs. Ihre provokanten Thesen eröffnen eine erregend neue Perspektive auf das Denken der neunziger Jahre. Der Krieg der Geschlechter hat biologische Wurzeln, Pornographie, Sadismus, Voyeurismus entstammen der Natur des Menschen, und erst die christlich-jüdische Morallehre hat das Dämonische zum Bösen erklärt - ohne es je besiegen zu können. Lord Byron und die Rolling Stones, die Präraffaeliten und Pop-Star Madonna: Camille Paglia spannt einen gewaltigen Bogen vom alten Ägypten bis zur Gegenwart, von der Venus von Willendorf bis zum TV-Werbspot - eine Geschichte der sexuellen Maskierungen und Entblößungen. Polemischer Furor und profundes Wissen, brillant pointierte Attacken und der vergleichende Blick über die Jahrtausende hinweg machen deutlich, worum es Camille Paglia geht. Die vornehmlich von Männern geschriebene Kulturgeschichte erscheint als permanenter Verdrängungskrieg gegen die heidnisch ungebändigte Sexualität, der Feminismus als törichter Versuch, Sexualität zu domestizieren. Aus ihren hellsichtigen Analysen entwickelt Camille Paglia das Szenario des immerwährenden Konflikts zwischen Dionysos und Apollon, wie er seit Nietzsche nicht mehr so eindringlich und lebendig gestaltet wurde. Die Künstler aller Epochen haben das ihre dazu beigetragen, und sie finden hier zu einer Stimme zusammen, quer durch alle geheiligten Weltordnungen, beunruhigend und vorwärtstreibend."