Rezension zu "Was wissen Heilige vom Leben" von Carina Schmidt
„Heilige sind Menschen, von denen andere glauben, dass sie besonders vorbildlich gelebt haben.“ (142). Solcherlei idealisierte Phantasiegestalten haben in den Erzählungen von Carina Schmidt keinen Platz. Ihre Charaktere sind Menschen aus Fleisch und Blut, hart und kantig, fragil und zerbrechlich. Menschen sehnen sich nach Heiligen, nach Vorbildern, doch den kindlichen Glauben an deren Existenz hat die Protagonistin Marlene als Erwachsene längst abgelegt.
In vierzehn Episoden erzählt die Autorin uns von Marlene, von ihren Familienmitgliedern, Freunden und Geliebten zu ganz unterschiedlichen Zeiten, in nicht chronologischer Reihenfolge. Die Episoden werden jedoch gerahmt von zwei Erzählungen, die einmal Marlene als zwölfjähriges Mädchen im Jahr 1994 zeigen, und als erwachsene, siebenunddreißigjährige Frau im Jahr 2019.
Die Erzählerin hält wie eine Kamera, objektiv, erbarmungslos, auf die Szenen drauf, verfolgt einzelne Charaktere, zoomt auf Details. „Um Richards Füße hatte sich schon ein Ring aus verschieden großen Spuckpfützen gebildet. Teilweise waren sie mit gelblicher Rotze angereichert.“ (11). Mit diesen Worten wird die erste Geschichte eingeleitet, die den Leser in eine harsche Realität hineinkatapultiert. Ekel ruft letztlich nicht das pubertäre Gehabe der Jungs auf dem Dorfplatz hervor, sondern Marlenes „Zuhause“, der kein heimeliger und sicherer Rückzugsort ist. Ihre Mutter ist Alkoholikerin, Bruder und Vater sind ausgezogen. Zuflucht sucht das Mädchen in der Religion, ihr Glaube ist der Versuch eine Konstante zu finden, in einer Familie, die bereits zerbrochen ist, und auch später in einem Leben, das sie lehrt, dass Menschen nicht immer bleiben. „Aber die Mutter war ja auch böse“ (17), denkt Marlene, doch die Autorin verhindert, dass wir als Leser die Charaktere in „gut“ und „böse“, in Opfer und Täter einteilen. Die Charaktere fordern keine Sympathien von uns, sie bieten uns keine Identifikation, sie wollen verstanden werden, gesehen werden in ihrer Komplexität.
Marlene flieht aus dem Elternhaus. Doch der Roman wirft auch die interessante Frage auf, ob man dem Leben wirklich ganz entfliehen kann, welche Muster sich wiederholen. „Doch irgendwie war er da hineingeschlittert. Irgendwie hatte sich dieser Lebensentwurf heimlich über ihn gestülpt, ohne dass er es richtig gemerkt hatte“, (164) stellt Thomas, Marlenes Bruder fest, als er Parallelen zwischen dem Leben seiner Eltern und seinem eigenen bemerkt.
„Was wissen Heilige vom Leben“ ist ein realistischer Roman, der mit offener, klarer und unverschnörkelter Sprache den Leser mit einer dysfunktionalen Familie konfrontiert, ohne zu sentimentalisieren. Der Roman besticht für mich nicht nur durch die gekonnte Zeichnung von komplexen Charakteren, sondern auch durch die prägnante Schilderung von Objekten, wie der Nudelsuppe mit Eierstich, die in der ersten Geschichte den Versuch darstellt, Normalität und Beständigkeit in eine Welt zu bringen, die unbeständig und unnormal ist. In einer anderen Geschichte ist es ein Stern-Ohrstecker, den Marlenes Geliebte nach ihrer ersten Nacht in ihrer Wohnung vergessen hat. Doch in dem Moment, in dem Marlene in Form eines Briefs von ihm erzählt, ist er das einzige, was von Izabela geblieben ist, ein letztes Bindeglied in einer Beziehung, die nicht sein kann. Es sind die Erinnerungen und die Gegenstände, die bleiben, wenn die Menschen bereits gegangen sind.
Und auch der Roman bleibt für eine Weile, auch wenn man ihn längst aus der Hand gelegt und ins Regal gestellt hat. Was man nicht machen sollte, sondern ihn weitergeben, denn er ist lesenswert!