Rezension zu "Stephen (Penguin Monarchs): The Reign of Anarchy" von Carl Watkins
Seit 2014 bringt der Penguin-Verlag eine Buchreihe heraus, die "Penguin Monarchs". Es handelt sich um Kurzbiographien aller englischen und britischen Könige und Königinnen seit dem 11. Jahrhundert. Die Reihe beginnt mit den letzten angelsächsischen Herrschern vor der normannischen Eroberung. Auch für Oliver Cromwell ist ein Band vorgesehen. Mittlerweile sind zwei Drittel der 45 geplanten Bände erschienen. Die Bücher sind kleinformatig (13x18,5 cm) und umfassen maximal 150 Seiten. Sie enthalten farbige Abbildungen, Stammtafeln und kommentierte Literaturhinweise. Auch wenn eine entsprechende Angabe fehlt, ist davon auszugehen, dass sich die Bände an historisch interessierte Laien richten, die sich rasch über das Leben der englischen Monarchen informieren wollen. Als Konkurrenz zur renommierten Biographienreihe "Yale English Monarchs", deren Bände eher für den wissenschaftlichen Gebrauch in Frage kommen, sind die "Penguin Monarchs" nicht gedacht. Interessant ist die Reihe dennoch, denn der Verlag hat zahlreiche bekannte Historikerinnen und Historiker als Autoren gewonnen. Damit ist sichergestellt, dass sich die einzelnen Kurzbiographien auf der Höhe des heutigen Forschungsstandes bewegen.
Wer war Stephan von Blois? Selbst Fachleuten und Kennern der englischen Geschichte dürfte es schwer fallen, diese Frage zu beantworten. Stephan von Blois (geboren zwischen 1092 und 1096, gestorben 1154) gehört zu jenen englischen Königen, die heute fast völlig vergessen sind. Mit Stephans Name verbindet sich die sogenannte "Zeit der Anarchie". Damit ist der Thronstreit gemeint, der ausbrach, als König Heinrich I. von England 1135 verstarb, ohne einen Sohn zu hinterlassen. Stephans Rivalin im Kampf um die Krone war Mathilde, die Tochter Heinrichs I. Die beiden Kontrahenten waren Enkelkinder Wilhelms des Eroberers, Mathilde über ihren Vater Heinrich, Stephan über seine Mutter Adela, die mit dem Grafen von Blois verheiratet war. Heinrich I. hatte den Adel des anglonormannischen Reiches dazu gebracht, Mathilde als Thronerbin anzuerkennen. Doch nach seinem Tod ergriff sein Neffe beherzt die Initiative. Stephan zog nach London, gewann die Mehrheit des Adels und der Geistlichkeit für sich und ließ sich Ende 1135 zum König krönen. Nach diesem gelungenen Staatsstreich wurde Stephan jedoch vom Glück verlassen. Obwohl er fast zwei Jahrzehnte lang die Krone trug, konnte er sich nicht an seiner Königswürde erfreuen. Mathilde fand sich nicht damit ab, dass ihr Vetter sie um den Thron gebracht hatte. Es kam zum Bürgerkrieg; eine Zeit der Wirren und Nöte begann. Ehrgeizige Barone nutzten die Schwäche des Königtums aus, um ihre eigene Macht zu stärken. Mehrfach fielen die Schotten in Nordengland ein. Der Krieg um die Krone zog sich jahrelang hin, ohne dass eine der beiden Seiten einen entscheidenden Sieg zu erringen vermochte.
Die Forschung hat Stephan noch nie positiv beurteilt. Auch Carl Watkins lässt keinen Zweifel daran, dass Stephan viele Fehler beging. Kritische Zeitgenossen gelangten bald zu dem Urteil, der König sei seinen Aufgaben nicht gewachsen und führe das von seinem Großvater Wilhelm geschaffene anglonormannische Reich ins Verderben. Der Grenzkrieg mit Schottland flammte immer wieder auf, die Waliser schüttelten die englische Herrschaft ab, und Mathildes Ehemann Gottfried von Anjou eroberte die Normandie, das Stammland der Dynastie. Stephan schaffte es nicht, seine Herrschaft zu konsolidieren. Seine begrenzten Ressourcen reichten nicht aus, um all der Krisen und Probleme Herr zu werden, die seine Stellung gefährdeten. Als glückloser und gescheiterter Monarch ist Stephan in die Geschichte eingegangen. Gegen das harsche Urteil der Zeitgenossen und der Nachwelt, Stephan sei ein Versager gewesen, kann auch Watkins keine Argumente ins Feld führen. Der Bürgerkrieg endete schließlich, weil die Barone kriegsmüde geworden waren. Sie forderten Stephan auf, sich mit Mathildes Sohn Heinrich von Anjou zu verständigen. Ende 1153 kam ein Kompromiss zustande: Stephan behielt die Krone und erkannte Heinrich als seinen Erben an. Als Stephan im Oktober 1154 starb, trat Heinrich II., der bereits die Normandie kontrollierte, ungehindert die Herrschaft über England an. Das anglonormannische Reich war wieder vereint.
Watkins steht vor den gleichen Problemen wie alle Historiker, die sich einer Herrschergestalt des Früh- und Hochmittelalters biographisch nähern wollen: Die Möglichkeiten, Stephan als Individuum zu erfassen, sind begrenzt. Selbstzeugnisse des Königs fehlen, und zeitgenössische Chroniken, die mehrheitlich von Geistlichen verfasst wurden, sind als Quelle nicht unproblematisch (was Watkins an mehreren Beispielen aufzeigt). Die Motive, die Stephan zum Griff nach der Krone verleiteten, liegen im Dunkeln. Ebenso unklar ist, ob Stephan Pläne oder Konzepte für die Zeit nach dem Staatsstreich hatte. Hegte er Ambitionen, die über den Erwerb der Krone hinausgingen? Offensichtlich fehlte es ihm an politischer Begabung, an den Führungsqualitäten, die Wilhelm I. und Heinrich I. besessen hatten. In den Augen der Zeitgenossen zog Stephan im Vergleich mit diesen beiden illustren Vorgängern stets den Kürzeren. Watkins bietet einen gedrängten Überblick über die "Zeit der Anarchie". Die nur rund 90 Seiten umfassende Darstellung fällt stellenweise etwas zu knapp aus. Hier und da hätte der Text mit zusätzlichen Details und Informationen angereichert werden können. Zu bedauern ist, dass Watkins nichts über Stephans Leben vor dem Tod Heinrichs I. mitteilt. Stephan war um die 40 Jahre alt, als er nach der Krone griff. Über sein Leben vor Erlangung der Königswürde hätte man als Leser gern Näheres erfahren.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Juli 2017 bei Amazon gepostet)