Rezension zu "Das Kochbuch des Kannibalen" von Carlos Balmaceda
Die Geschichte beginnt 1978 mit dem sieben Monate alten César Lombroso, der sich lustvoll am Fleisch seiner während der Säugung verstorbenen Mutter gütlich tut, ehe die Ratten über den Leichnam herfallen.
César ist der Letzte einer langen Reihe der Familien Cagliostro und Lombroso, deren Schicksale alle in dem Gasthaus "Almacén Buenos Aires" in einem Ort namens Mar del Plata in Argentinien kulminieren.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die Zwillinge Luciano und Ludovico Cagliostro von Italien nach Argentinien aufgebrochen, um sich dort den Lebensunterhalt als begnadete Köche zu verdienen. 1911 eröffnen sie das "Almacén" und werden bald zum gefragtesten Gourmettempel des Landes. Sagenhaft sinnliche Speisen lassen dort Präsidenten, Putschisten, Militärs und allerlei das Schicksal des Landes lenkende Personen einkehren. Es gibt familiäre und wirtschaftliche Dramen - dennoch schaffen die Betreiber es immer immer, das "Almacén" zurück ins Interesse wichtiger Menschen mit Hang zu exquisitem und erlesenem Essen zu bringen. Das Geheimnis dieser sinnlichen Küche findet sich im "Handbuch der südatlantischen Küche"... einer großartigen Rezeptsammlung von Césars Vorfahren Mássimo Lombroso. Die Rezepte reichen zurück bis Platon und bilden die Basis zu in höchsten Tönen gelobten Speisen, die die Besitzer dieses wie einen Schatz gehüteten Buches mit ganz speziellen Zutaten zu verfeinern wissen...
Dieser Roman beginnt dem Buchtitel gerecht werdend, doch tritt das kannibalistische Thema erfreulich bis gegen Ende der Erzählung in den Hintergrund und macht einer höchst faszinierenden Familien- wie auch Landesgeschichte Platz. Carlos Balmaceda (* 1954) beschreibt mit größter Wonne die Triumphe und Niederlagen der beiden Familien und verknüpft diese mit den Auf und Abs Argentiniens selbst, bezaubert mit sinnlichen Beschreibungen nicht nur erotische Leidenschaften sondern auch die kredenzten Gerichte und vermag mit Witz und großer Freude am Erzählen mit dem rechtzeitigen Stop vor dem Verfall ins Kitschige auch von kannibalistischen Einlagen zu berichten. Diese große Gabe, mit Worten zu spielen und die Szenen dadurch so lustvoll zu überhöhen, machen die blutrünstigen und dunklen Momente des Romanes auch für Zartbesaitete lesbar.
Es ist kein Horror/Thrillerwerk, sondern ein stimmungsvoller Streifzug durch europäische Schicksale, die in jenen Tagen ihr Heil in Südamerika suchten und vielfach durch die Vorliebe der Reichen für diesen Teil der Welt auch fanden. Eingebettet in Horrorszenarios findet sich eine betörende dramatische Familiengeschichte und der Mythos um dieses Kochbuch mit all den wundersamsten Rezepten. Eine Wonne für Freunde des Lukullischen wie des Schaurigen!