Rezension zu "Ilsebill salzt nach" von Carmen-Francesca Banciu
Carmen-Francesca Banciu hat bereits ein umfangreiches Werk vorgelegt, das aus Romanen und Erzählungen besteht. Seit 1998 publiziert sie auf Deutsch, nachdem sie 1991 am Ende eines DAAD-Stipendiums beschlossen hat, in Berlin zu bleiben und nicht in ihre rumänische Heimat zurückzukehren. Von dieser und ihrer Kindheit und Jugendzeit in einer stramm kommunistischen Familie mit Eltern, die zu hundert Prozent auf Parteilinie lagen und von der Schaffung einer neuen Gesellschaft nahezu fanatisch überzeugt waren, handeln viele von Bancius Romanen wie zum Beispiel „Lebt wohl, ihr Genossen und Geliebten“ (2018) oder „Vaterflucht“ (1998). Daneben gibt es Romane und Erzählungen, die sich mit ihrer zweiten Heimat Griechenland sowie ihrer Wahlheimat Berlin befassen.
Im Frühjahr 2023 erschien nun der Roman „Ilsebill salzt nach“ (bei PalmArtPress Berlin). Literatur- und insbesondere Günter-Grass-Kenner werden den Titel unschwer als den ersten Satz aus dem „Butt“ identifizieren (er wurde übrigens als bester erster Satz gekürt). Und in der Tat geht es in diesem „Briefroman“ um Günter Grass, aber – und das ist gut so – auch um die Autorin selbst sowie um den Mikrokosmos eines kleinen norddeutschen Dorfs, Wewelsfleth, in dem Günter Grass einige Jahre gelebt und seinen „Butt“ geschrieben hat. Die Wohn- und Arbeitsstätte des Schriftstellers wurde bei seinem Wegzug dem Land Berlin übereignet, mit der Auflage, dort Berliner Schriftstellern und Schriftstellerinnen im Rahmen des Alfred-Döblin-Stipendiums einen Aufenthalt zu ermöglichen.
Die Autorin tritt also dort ihr Stipendium an mit einem neuen Projekt im Kopf, wird aber dann im Haus in Wewelsfleth auf geheimnisvolle Weise von der unsichtbaren, aber spürbaren Präsenz von Günter Grass‘ Geist heimgesucht, begleitet und auch inspiriert. Fortan tritt sie in einen Dialog mit dem Nobelpreisträger, indem sie ihm Briefe schreibt („Lieber Günter“), Fragen stellt, empathische und kritische, und seinen Spuren im Dorf folgt. Der 'Dialog' bleibt freilich einseitig, da der Briefwechsel nur in eine Richtung geht und die Fragen naturgemäß unbeantwortet bleiben. Der Leser erfährt aber trotzdem einiges über Grass, seine Lebensstationen, seinen ‚Sündenfall‘ durch eine verschwiegene und erst spät enthüllte SS-Mitgliedschaft, seine Lebenshaltung. Immer wieder flicht Banciu prägnante Zitate ein (z.B. „Ich rauche zuviel, aber regelmäßig.“). Glücklicherweise erfahren wir auch einiges über die Autorin (oder Erzählerin), die in ihren Briefen immer wieder – oder man könnte fast sagen überwiegend – eigene Gedanken, Erinnerungen, Begegnungen, Eindrücke schildert. Es gelingt der Autorin sehr geschickt, ihre eigenen Themen mit den Lebensthemen von Günter Grass zu synchronisieren, Unterschiede und Ähnlichkeiten nachzuspüren und kreisend, zwischen Grass und dem Eigenen oszillierend, Themen gedanklich zu entwickeln, die im Grunde fast jedes Menschenleben betreffen: das Empfinden der Natur und ihrer Jahreszeiten, die Wahrnehmung von Zeit, Schuld und Verzeihen, Versöhnung, das Bedürfnis nach menschlichem Austausch – sei es in Person oder über soziale Medien, Lebensmittel und Kochen, Umgang mit dem Tod, das Leben auf dem Dorf, Szenarien einer zukünftigen Gesellschaft, die Erfahrung des Schreibens.
So wie Banciu sich immer wieder mit den Grassschen Lebensthemen verknüpft, so kann der Leser an Bancius Gedankenwelt ‚andocken‘ und eigene Sichtweisen vergleichend hinzufügen. Umso mehr da die elliptische, durchrhythmisierte Sprache der Autorin an vielen Stellen einen starken Sog entwickelt. Ein Beispiel: „Der Tag fühlt sich an, als würde er blass. Kränkelnd. Ein verlorener Tag. Was ihn rettet und mich rettet, ist das Wissen über die Wellenförmigkeit des Lebens. Der Lebensenergie. Alles schwingt. Verläuft in Wellen. Ist in ständiger Bewegung. Absteigend. Aufsteigend.“ Eine weitere Metapher, die der Autorin beim Erfassen dessen, was unser Leben ist, dient, ist der Kreis: „Verläuft das Leben nicht auch in konzentrischen Kreisen. In sich wiederholenden Formen. Strukturen. Rhythmen. Zyklen.“ Einem solchen Muster folgt Banciu auch beim Aufbau ihres Romans. Neben den kleinen Kreisen der immer wiederkehrenden Themen und Fragen schließt sich am Ende der große Kreis: Der Stipendiumsaufenthalt endet, Abschied von Wewelsfleth und eine Art Resumé: „Niemand kannte ich vor drei Monaten hier. Weder Mensch. Baum. Noch Tier. Ein Anfang ist gemacht. Ein Annäherungsversuch im Krebsgang. Auch Dich kannte ich noch nicht. Ich kenne Dich immer noch nicht. Ich reise ab. Die Spurensuche geht weiter. Da ist kein Ende in Sicht. Und Du wirst mich weiter begleiten.“
So etwa könnte auch das Resumé lauten, nachdem man „Ilsebill salzt nach“ zu Ende gelesen hat. Es handelt sich bei diesem jüngsten Werk nicht um einen Roman im klassischen Sinne (integriert sind übrigens auch Gedichte), auf der Handlungsebene geschieht wenig, dennoch hinterlässt der Roman ein Gefühl von Fülle und nimmt einen mit auf eine literarisch-lyrische Reise der besonderen Art.