Cover des Buches Gegen den Hass (ISBN: 9783103972313)
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Rezension zu Gegen den Hass von Carolin Emcke

Parrhesia

von BeaMilana vor 7 Jahren

Rezension

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BeaMilanavor 7 Jahren
Obwohl ich in einem liberalen Umfeld in einer weltoffenen Großstadt in einem Staat mit der umfangreichsten Sozialabsicherung Europas lebe, also körperlich fern von Gewalt und Hass, begegnete mir in den letzten Jahren in der Presse, im Internet und der TV-Öffentlichkeit beinahe täglich eine Form von Hass, der mich zutiefst erschreckte.
Woher nimmt eine kleine Gruppe sich das Recht zu behaupten, sie seien das Volk, fragte ich mich oft. Warum geballte Parolen höchster Unzufriedenheit, in denen blinder Hass schwingt gegen alles, was anders ist? Wer bedroht durch was unsere gesellschaftliche Ordnung?

Carolin Emcke, Kriegsberichterstatterin, Philosophin und eine der wichtigsten Intellektuellen in diesem Lande, geht in ihrem Essay "Gegen den Hass" den jüngsten gesellschaftlichen Phänomenen nach (u.a. mit Fallbeispielen aus in Deutschland und Amerika) und seziert mit analytischem und genauen Blick Ursache und Wirkung.
Der Hass, von dem in ihrem Buch die Rede ist, "ist so wenig individuell wie zufällig":
"Er ist nicht einfach nur ein vages Gefühl, das sich mal eben, aus Versehen oder aus vorgeblicher Not, entlädt. Dieser Hass ist kollektiv und er ist ideologisch geformt.
( ...)
Und was viel bedrohlicher ist: das Klima des Fanatismus. Hier und anderswo.
Diese Dynamik aus immer fundamentalerer Ablehnung von Menschen, die anders oder nicht glauben, die anders aussehen oder anders lieben als eine behauptete Norm."

"Die Annahme, dass es ein Volk aus Freien und Gleichen geben müsste, sei eine historische Fiktion."

Carolin Emcke argumentiert mit Gegensätzen. Sie stellt das Sichtbare dem Unsichtbaren, der Homogenität die Vielfalt gegenüber, der Natürlichkeit die Unnatürlichkeit, das Reine dem Unreinen (die beiden zuletzt genannten Begrifflichkeiten gefielen mir nicht).

Für mich ist ihr Sachbuch vor allem eins: Ein dringend notwendiger, moralischer Apell an uns, andersartige Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Sexualität, Religiösität, sozialer Herkunft, weder zu stigmatisieren, auszugrenzen oder gar zu verteufeln, sondern als gleichwertige Menschen wahrzunehmen und anzunehmen.

So endet ihr Buch in dem Apell für eine Pluralisierung der Perspektiven, eine kritische Befragung der Raster der Wahrnehmung und des Kanons des Wissens, der kulturelle Praktiken und und Überzeugungen tradiert. Emcke verweist auf den Mangel dieses Wissens in der schulischen Bildung (z.B. bei der Lektüre heutiger Schriftsteller aus anderen Ländern, um Erfahrungsräume zu erweitern), in den Behörden und stattlichen Institutionen.
Focault entwickelte 1983 den Begriff parrhesia, die Idee vom Wahrsprechen. Darin geht es nicht nur darum, die Wahrheit zu benennen, sondern sie auch tatsächlich zu meinen, indem man auch bereit ist, etwas zu riskieren.

Wenn es um Rassismus und die Herabsetzung von Minderheiten geht, sei es Pflicht der Zivilgesellschaft zu widersprechen, verlangt sie.
Zum zivilen Widerstand gehöre auch, sich "die Räume der Phantasie zurückzuerobern" und "Geschichten vom Glück" zu erzählen, damit sich, "jenseits all der Erzählungen vom Unglück und von der Missachtung, auch die Möglichkeit des Glücks als etwas festsetzt, das es für jeden und jede geben könnte, ...".
Für alle.

Carolin Emcke wurde dafür 2016 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Es tut gut, Bestärkung von oben zu bekommen.
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