In der Schule spiegelt sich die Entwicklung einer Gesellschaft. Das sollte man beachten, wenn man dem deutschen Schulsystem die schlechten Noten gibt, die zweifellos verdient. Liest man die Kommentare zu diesem Buch, dann fällt sofort auf, dass sein Autor persönlich angegriffen wird. Vor allem wird ihm vorgeworfen, kein wirklicher Lehrer zu sein. Es gehört offenbar zur sensationellen Logik von Lehrern, dass nur ihnen selbst Kritik an der Schule zugestanden wird. Alle anderen hätten keine Ahnung.
Und damit das klar ist: Ich bin auch kein Lehrer an einer Schule, war aber lange genug Hochschullehrer und habe über viele Jahre Lehrer ausgebildet, kenne also meine Pappenheimer. Und nebenbei war ich selbst einmal Schüler und hatte später schulpflichtige Kinder. In meiner Familie gibt es sowohl Schüler als auch Lehrer. Das dürfte ausreichen, um in der Sache mitreden zu können.
Man kann das deutsche Schulsystem nicht unabhängig von den Problemen beurteilen, die das ganze Land hat. Leider macht das aber der Autor. Schon deshalb kommt er am Ende zu Verbesserungsvorschlägen, die gegenwärtig weit ab von jeder Realisierungsmöglichkeit liegen.
Was soll das deutsche Schulsystem leisten? Nun, zu erst sollte es wohl für die spätere Berufsausbildung seiner Abgänger sehr gute Voraussetzungen schaffen und gleichzeitig eine hohe Allgemeinbildung vermitteln. An dieser Kernaufgabe scheitert es bereits deutlich. Universitäten sind gezwungen, sogenannte Auffrischungskurse vor Studienbeginn zu organisieren, damit die Schulabgänger erst einmal einigermaßen auf der Höhe der späteren Anforderungen gebracht werden. Ich rede hier nicht von den maximal zehn Prozent der Schüler, die intelligent und fähig genug sind, um sich immer und überall durchsetzen zu können. In der Berufsausbildung sieht es ähnlich aus. Auch dort müssen Kurse angeboten werden, die die Auszubildenden wenigstens einigermaßen befähigt, belastbare Grundfähigkeiten in der deutschen Sprache und in Mathematik zu erlangen.
Nebenbei soll das deutsche Schulsystem jedoch auch noch kulturfremde Kinder, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind und zum Teil die Gepflogenheiten in diesem Land nicht akzeptieren, integrieren. Außerdem wird diesem System noch die Aufgabe gestellt, eine höchstmögliche Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Die verfügbaren Lehrer sind dafür nicht ausgebildet. Nicht zu vergessen: Es gilt alle mitzunehmen und keinen zurückzulassen. Dieser weltfremde Spruch zeigt nur eins: In einer Leistungsgesellschaft sorgt die Schule dafür, dass das Leistungsprinzip verwässert oder gleich ganz abgeschafft wird. Bei manchem "Reformpädagogen" gelten Zensuren bereits als Körperverletzung. Und Frontalunterricht als Reizwort. Das jedenfalls habe ich aus diesem Buch gelernt.
Das Dumme an so viel Ignoranz der Realität ist nur, dass man damit die Realität nicht verschwinden lassen kann. Im Schulsystem verdrängt man den wachsenden Leistungsabfall mit einem Absenken des Niveaus. Das sieht man allein daran, dass immer mehr Abiturienten ihr Abitur mit einem Durchschnitt von 1,0 ablegen. Ein solch plötzlicher Zuwachs von Intelligenz innerhalb von 20 Jahren ist eines der deutschen Wunder, die andere Nationen nicht vorweisen können. Auch darauf geht der Autor ein.
Er beschreibt den Alltag des deutschen Schulsystems in seinem Buch sehr gut, auch wenn nicht alles in ihm vorkommt. Der marode Zustand vieler Schulen und fehlende Lehrer erscheinen bei Tergast nur am Rande. Es gehört zur Kernkompetenz der deutschen Politik, unangenehme Fakten zu verdrängen und dringend notwendige Entscheidungen zu verschleppen. Ist das Kind dann in den Brunnen gefallen, versucht man mit sinnfreier Hektik entschlossenes Handeln vorzutäuschen.
So war beispielsweise der Lehrermangel abzusehen. Als sich das dann als Fakt darstellte, musste man etwas tun und rief sogenannte berufsfremde Quereinsteiger dazu auf, Lehrer zu werden. Tergast ist einer von ihnen. Wer auf so etwas hereinfällt, findet sich dann bald in einer unangenehmen Situation wieder: Man wird nie als richtiger Lehrer anerkannt, schlechter bezahlt und seltsamen Prozeduren unterzogen. Beispielsweise muss man in Sachsen nach einem Not-Zusatzstudium noch ein Referendariat hinlegen, obwohl man schon drei Jahre als Lehrer gearbeitet hat. Tergast hat sein Quereinsteiger-Dasein schnell beendet, wie übrigens auch viele andere.
Leider gehen seine Reformvorschläge am Ende seines Textes ins Leere. Beispielsweise vertritt er das 13-jährige Abitur. Stattdessen sollten Lehrpläne entschlackt werden. Das aber scheitert daran, dass diese Pläne von Leuten fabriziert werden, die nicht am Schüler und dessen praktischer Ausbildung interessiert sind, sondern an der Vertretung ihres Fachgebietes in den Lehrplänen. Fällt das nämlich weg, dann reduziert sich auch ihr universitärer Fachbereich. Ebenso wenig Sinn macht der Vorschlag, die Schulbildung aus der Länderhand zu nehmen, denn das würde mit Sicherheit das Niveau noch mehr senken. Mit Grausen würde man es zum Beispiel in Sachsen sehen, wenn man das leistungsschwache Bremer Abitur aufgedrückt bekäme.
Wie jedes staatliche System in Deutschland ist auch die Schule nicht kundenorientiert. Es interessiert sie nicht, was die Abnehmer ihrer Schüler tatsächlich brauchen und verlangen. Erst dann, wenn dies sich ändert und wenn das Leistungsprinzip wieder an erster Stelle steht, kann man ein wenig Hoffnung haben, dass sich die Zustände ändern. Die Schule ist, wie Tergast richtig schreibt, auch keineswegs dazu da, Defizite in der Erziehung der Kinder zu beseitigen. Wenn schlechtes Benehmen und Respektlosigkeit toleriert werden, muss man sich nicht wundern, wenn das der Normalzustand wird. Davon wieder abzukommen, ist ungleich schwerer als in einen solchen Zustand zu rutschen.
Natürlich könnte man sich informieren, wie erfolgreichere Schulsysteme weltweit funktionieren. Dann würde man auch sofort sehen, was in Deutschland schief läuft und einen gehörigen Schreck bekommen. Es gehört jedoch zu den seltsamen Eigenschaften der Deutschen, sich selbst für total großartig zu halten und als Vorbild für die Welt zu sehen. Dass das schon immer für Kopfschütteln und neuerdings auch schon für viel Spaß woanders in der Welt gesorgt hat, scheint man hierzulande nicht wahrzunehmen. Bestimmt gibt es dafür in der Psychologie einen Fachbegriff.