Rezension zu "Der Kreml" von Catherine Merridale
Catherine Merridales neues Buch lässt sich mit einer Matrjoschka vergleichen. Es enthält nicht eine Geschichte, sondern drei Geschichten, die ineinander verschränkt sind - die Geschichte des Kremls, der Stadt Moskau und des russischen Staates von seinen Anfängen im Mittelalter bis in die Gegenwart. Kaum ein zweites Bauwerk wird so sehr mit Russland assoziiert wie der Moskauer Kreml. Er befindet sich nicht unbedingt im geographischen Zentrum des Landes, kann aber als symbolisches Zentrum Russlands gelten. Der Eindruck, er sei eine Trutzburg, die die Jahrhunderte unverändert und unbeschadet überstanden habe, täuscht. Der Kreml hat Dynastien, Eroberer und verschiedene Regime kommen und gehen sehen; er war zahllosen Feuersbrünsten ebenso ausgesetzt wie Napoleons Sprengmeistern und dem vandalenhaften Wüten der Bolschewiki, die in den 1920er und 1930er Jahren etliche Kirchen und Klöster auf dem Kremlgelände niederreißen und abtragen ließen. Der Kreml wurde so oft umgebaut oder um neue Bauten erweitert, dass sich seine ursprüngliche Gestalt kaum noch erahnen lässt. Fest steht, dass die Anfänge der Bebauung auf dem Kremlhügel mindestens bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen.
Merridales Buch bietet mehr als nur die Geschichte eines architektonischen Ensembles. Aber selbst diese Geschichte wäre für sich allein genommen spannend und faszinierend genug, um erzählt zu werden. Da der Kreml jahrhundertelang als Herrschaftssitz der Moskauer Großfürsten und russischen Zaren diente, bietet es sich an, ihn als Prisma zu benutzen, um die wesentlichen Linien und Leitmotive von acht Jahrhunderten russischer Geschichte herauszuarbeiten. Das Wachstum des Kremls vollzog sich parallel zum allmählichen Erstarken des russischen Staates. Merridale erzählt von den verschiedenen Funktionen des Kremls, von seinen Glanzzeiten und den Zeiten der Vernachlässigung, von der Bedeutung, die er für das russische Volk als Erinnerungsort und Bezugspunkt nationaler Selbstvergewisserung hatte, von seinen vielen architektonischen Metamorphosen, von seiner Anziehungskraft auf in- und ausländische Künstler und Baumeister. Das Nebeneinander von Palästen, Kirchen und Klöstern innerhalb der Kremlmauern verdeutlicht die enge Verbindung von weltlicher und geistlicher Macht im Moskauer Staat. Bis ins späte 17. Jahrhundert diente der Kreml als Fürstenresidenz, Verwaltungszentrum, Krönungsort, Schatzkammer und Herrschergrablege; in Krisen- und Kriegszeiten schützte er die Herrschenden vor rebellierenden Untertanen oder äußeren Feinden. Seit der Verlegung von Hof und Regierung nach Petersburg fristete er jedoch ein Schattendasein. Die Nachfolger Peters des Großen kappten die Verbindungen zum alten Moskauer Reich aber nicht vollständig: Bis hin zu Nikolaus II. kehrten alle Zarinnen und Zaren in den Kreml zurück, um sich dort krönen zu lassen.
Im 19. Jahrhundert wurden die Bauten, Kunstschätze und Archive des Kremls zum Mekka russischer Historiker und Kunstwissenschaftler. Nirgendwo sonst schienen russische Geschichte und russische Kultur in derart konzentrierter Form vorzuliegen. Der Kreml wurde zum Objekt wissenschaftlicher Studien und archäologischer Ausgrabungen. Seine Zeit als Regierungssitz schien ein für allemal vorbei zu sein; die Umwandlung in ein gigantisches Museum, eine "russische Akropolis" zeichnete sich ab. Doch Anfang 1918 verlegten die Bolschewiki die Hauptstadt zurück nach Moskau. Sie verschanzten sich im Kreml. Die neuen kommunistischen Herrscher waren kulturelle Barbaren und hatten keinen Sinn für die Schätze, von denen sie umgeben waren. Einige der ältesten und architekturgeschichtlich bedeutsamsten Kremlbauten fielen der Abrissbirne zum Opfer, ebenso wie weite Teile der Moskauer Altstadt. Wieder wurde der Kreml zu einem Ort, an dem eine kleine, weitgehend unsichtbare Elite Entscheidungen über das Schicksal des Riesenreiches traf, ohne dass die Bevölkerung Einfluss auf diese Entscheidungen nehmen konnte. Für Merridale ist der Kreml auch ein Symbol für das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft in Russland, ein Sinnbild für die Distanz zwischen Herrschern und Beherrschten. Erst unter Chruschtschow gewann der Kreml eine neue Rolle, die er bis heute besitzt - die einer Touristenattraktion. Seine alte Funktion als Schaltzentrale der Macht und Bühne für die Selbstdarstellung des Staates und seiner Führer hat er ebenfalls bis heute behalten.
Der Kreml steht aber keineswegs nur für Selbstisolation und Abschottung nach außen. Im Gegenteil, gerade der Kreml bietet viele Beispiele dafür, wie Russland kulturelle Einflüsse aus dem Ausland aufnahm. Es waren italienische Architekten, die im späten 15. Jahrhundert den Kremlmauern und einigen Kremlbauten eine Gestalt gaben, die sich im Wesentlichen bis heute erhalten hat. Peter I. richtete im Kreml das erste russische Theater nach westlichem Vorbild ein, argwöhnisch beäugt von der orthodoxen Geistlichkeit. Trotz aller geschichtlichen Veränderungen, trotz aller Wunden, die ihm geschlagen wurden, blieb der Kreml bis heute ein Gravitationszentrum, das unablässig Aufmerksamkeit auf sich zieht, an dem niemand vorbeikommt, sei er Politiker, Journalist oder Tourist. Es ist eine erzählerische Meisterleistung, wie Merridale politische Geschichte, Kultur- und Architekturgeschichte miteinander verknüpft. Die im Untertitel angekündigte "neue" Geschichte Russlands bietet sie allerdings nicht. Ihre Ausführungen zur russischen Geschichte sind konventionell und frei von überraschenden Einsichten. Lehrreich, informativ und unterhaltsam ist das Buch aber allemal. Zahlreiche Farbabbildungen sowie einige Karten und Baupläne unterstützen den Text. Leider fehlen Stammtafeln, so dass bisweilen der Überblick über die Verwandtschaftsverhältnisse der Moskauer Großfürsten und russischen Zaren verlorengeht. Die ideale Vorbereitungslektüre für eine Moskaureise!
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Mai 2014 bei Amazon gepostet)