Rezension zu "Kolja" von Chaim Noll
Günstiger ist man nie nach Israel gereist. Chaim Nolls Kolja ist eine so dichte Beschreibung des Alltags, der Menschen und ihrer Gefühle, dass man nach dem Lesen meint, dabei gewesen zu sein. Es ist ein Alltag, der in den Medienberichten über Israel nicht vorkommt und hinter den Konflikten des Nahen Ostens zurücktritt. Die stete Erwähnung Israels im Zusammenhang mit Krieg und Terror erschafft Distanzen, die Chaim Noll mit seinen kurzen, präzisen und immer empathischen Geschichten zu überwinden sucht. In der Regel werden die Details des israelischen Alltags zerdrückt unter der Last des (geo)politischen Kontextes. Noll ist ein literarischer Archäologe. Mit dem Ausgrabungsbesteck macht er sich daran, das wahre Leben unter diesen medialen Trümmern hervorzuholen.
Man kann sich der israelischen Gesellschaft und der oft widersprüchlichen Wirklichkeit nähern, indem man Sachbücher und historische Werke liest, oder einen äußerst empfehlenswerten Hybriden wie ‚Mein gelobtes Land. Triumph und Tragödie Israels‘ von Ari Shavit oder indem man sich Romanautoren wie Amos Oz zuwendet. Wer es aktueller mag, kann israelische Zeitungen (z.B. Haaretz) und Magazine (Israel today bzw. Israel heute) lesen. Aber wer dem tatsächlichen Alltag, dem Gewöhnlichen, dem Unspektakulären nachspüren möchte, stößt schnell an die Grenzen des Möglichen. Chaim Noll schließt diese Lücke.
Dabei lastet auf dem Alltag nicht nur die Gegenwart, sondern vor allem auch die Vergangenheit. Es ist große Kunst, wie Noll diese integriert.
„Es gibt keine Juden mehr in Tromsø, aber lange hatten dort welche gelebt, ein paar Familien, Jahrhunderte lang, bis zur deutschen Besetzung Norwegens im zweiten Weltkrieg. Das bekannte Ende.“
Der gesamte bis heute fortwirkende Horror des Holocausts, in Myriaden wissenschaftlichen, belletristischen, autobiografischen ja gar fantastischen Seiten verarbeitet, wird hier unspektakulär mit drei Worten behandelt. Das bekannte Ende. Punkt. Wozu hier Worte verlieren, geht es doch nicht um die Geschichte der Juden, sondern um die Geschichten von Juden.
Eretz Israel – Land der Juden
Doch hier bleibt Noll nicht stehen. Zur Binnenperspektive kommt die Außenperspektive. Wie werden Juden und Israelis gesehen, vor allem in den Augen einer jungen deutschen Generation? Besonders eindringlich beschrieben in der Geschichte ‚Der große Bruder‘:
„Anna wusste fast nichts über Juden, Israel oder das Pesach-Fest. Dem Wort Jude haftete etwas eher Unangenehmes an, etwas Düsteres, Mahnendes. Die Juden, die sie von den Fotos in ihren Schulbüchern kannte, waren abgemagerte Leute in gestreiften Anzügen hinter Stacheldrahtzäunen oder perplex in die Kamera schauende Ladenbesitzer, denen man die Schaufenster eingeschlagen hatte. Oder sie waren tot. Oder sie lebten in Israel, aber dann wurden sie in das allgemeine Mitgefühl nicht mehr eingeschlossen.“
Klatsch. Da ist sie die verbale Ohrfeige. Ein kurzer Nebensatz und wieder mit Implikationen, die so weitreichend sind, dass hier eigene Abhandlungen vonnöten wären. Oder anders ausgedrückt: viel Wahrheit, die man, so man sie denn hören will, sich anderweitig erarbeiten muss.
Chaim Nolls Kolja ist eine Kurzgeschichtensammlung über das Israel und seiner Bewohner*innen von heute. Es ist bei ihm allerdings auch ein Alltag, der ohne die ganz großen Widersprüche der israelischen Gesellschaft auskommt. Das kann man als Vorwurf formulieren oder man kann es schlichtweg genießen.
Dabei ist Kolja so gut geschrieben, dass es unklar bleibt, ob die Geschichten tatsächlich so erlebt bzw. berichtet wurden oder ob es frei erfundene Erzählungen sind.