Mit Antisemitismus & Misogynie aus der Zeit gefallen?
Die Geschichte um das Waisenkind Oliver Twist bringt dem Leser das durch Dickens geprägte Uptown-Downtown-Thema näher; aber ist es das dem aufgeklärten, deutschen Leser wert, das antisemitische Thema von Sikes und Fagin zu ertragen, das später zum Holocaust und Nationalsozialismus führte? Der frauenverachtende Blick des Erzählers ist in diesem Roman ebenso kein Randphänomen, was das Lesevergnügen schmälert. Obwohl doch gerade Jüdinnen und Juden, sowie Frauen im Allgemeinen zu den unterprivilegierten Personen der Gesellschaft zählen, scheint der Autor für diese Personengruppen der Gesellschaft, die er kritisiert, blind zu sein.
Mit Gesellschafts- und Kapitalismuskritik doch brandaktuell?
Charles Dickens gelingt es immerhin, die oft düstere Realität der unteren sozialen Schichten im viktorianischem England eindrucksvoll darzustellen. Mit Oliver, der in einem Waisenhaus aufwächst, dort misshandelt wird und schließlich die Gesellschaft in ihrer ausbeuterischen Form erlebt, zeigt das Buch das erbarmungslose, kapitalistische System, das den armen Figuren Chancengleichheit und Wohlstand verwehrt. - Brandaktuelle Themen, die in der heutigen Realität weiterhin ungelöst sind.
Wer ist schuld an Olivers Unglück?
Ein diskutierwürdiges Element von Oliver Twist ist zweifellos die Darstellung von Juden wie Sikes oder auch von Fagin, der von Charles Dickens als Kopf einer Bande von Kriminellen beschrieben wird. Wie dieser und sein Komplize Sikes die Fäden ziehen; wie sie hässlich, hakennasig, zwielichtig, geldgierig, unmoralisch sind und Kinder ausnutzen, zeigt unkritisch das aus heutiger Sicht ekelerregende Stereotyp eines angeblich existierenden "jüdischen Charakters".
Die Art und Weise, wie der Autor Fagin wiederholt als "den Juden" bezeichnet anstelle ihn beim Namen zu nennen, lässt erahnen, dass ein Jude hier nicht als Individuum auftritt, sondern als Stereotyp. So, als gäbe es nur diese im Buch beschriebene Art. Das verschärft das bis heute existierende Klischee des "bösen Juden“ aus einer Zeit, in der solche Stereotype weit verbreitet waren und schwere Folgen hatten.
Auch wenn Dickens' Absicht in Bezug auf die soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeit klar wird, bleibt die Frage, ob der Preis für diese kritische Darstellung von Klassenunterschieden das Wiederholen solcher Klischees in der heutigen Zeit rechtfertigt.
Neben diesem antisemitischen Thema ist auch der Umgang mit Frauen in Oliver Twist problematisch. Die wenigen weiblichen Figuren im Roman, darunter Nancy, Bet und Rose, sind in der Darstellung häufig passiv, hilflos oder in Bezug auf ihre Moralität stark unterlegen. Der Erzähler verurteilt sie als inkompetent und schwach, wenngleich sie hier und da aktiv handeln. Dies spiegelt die gesellschaftliche Position der Frauen in der viktorianischen zeit wider, die jedoch in der Erzählweise von Dickens viel Raum einnimmt. Ihre Schwächen und Opferrolle dominieren die Darstellung, was dem modernen Leser als frauenfeindlich und antiquiert erscheint und abermals den Wert der Geschichte in der heutigen Zeit in Frage stellt.
Oliver als Hoffnungsträger:
Trotz dieser nicht wegzudiskutierenden problematischen antisemitischen und frauenfeindlichen Inhalte bietet der Roman viele universelle Thematiken über das menschliche Wesen, wie das Streben nach moralischer und gesellschaftlicher Integrität und dem Ressourcen- und Überlebenskampf unter den Armen. Olivers unschuldiger Glaube an das Gute, sein ständiger Versuch, das Richtige zu tun, trotz der grausamen Welt um ihn herum, bietet eine starke moralische Botschaft: Die Idee, dass man in einer durch und durch fehlerhaften Gesellschaft auch Hoffnung und Güte bewahren kann, ist ein Lichtblick, das den Roman über die Jahrhunderte hinweg relevant macht. Hierbei trägt Dickens nicht zu dick auf, macht Oliver nicht zu perfekt.
Fazit:
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Oliver Twist ein Werk von historischer Bedeutung ist, das die sozialen Missstände seiner Zeit beleuchtet und ein grundlegendes Verständnis für die Klassenspaltung und Armut des viktorianischen Englands vermittelt. Doch die problematischen Darstellungen von Juden und Frauen stellen den Leser vor die Frage, inwieweit die positiven Aspekte des Romans den Schaden durch das Wiederholen solcher Stereotype überwiegen. Für den modernen Leser ist es unabdingbar, den Text nicht nur als ein literarisches Werk zu betrachten, sondern auch in den Kontext der damaligen gesellschaftlichen Werte und der modernen Kritik an diesen Werten zu stellen. Dennoch darf Menschenfeindlichkeit nicht ignoriert und mit den Worten: "das war damals eben so" abgetan werden. Insofern bleibt Oliver Twist ein zweischneidiges Schwert – sowohl ein Klassiker der englischen Literatur als auch ein altes Werk, das zwingend einer kritischen Lektüre bedarf.