Der Prinz im Labyrinth
Altertumsroman von Charlotte Fondraz
Minoisches Kreta. König Minos, der mit Hilfe des Gottes Poseidon König wird, diesem jedoch zum Dank nicht das gewünschte Stieropfer darbringt. Ein erzürnter Gott, der zur Strafe bewirkt, dass die Frau des Minos, Pasiphaë, sich nach diesem Stier verzehrt. Ein Wesen, halb Mensch, halb Stier das Produkt dieser Leidenschaft. Ein Baumeister, Daidalos, der zuerst für Pasiphaë eine hohle Kuh fertigt, damit sie in diese hineinschlüpfen und vom Stier besprungen werden kann, baut nun für das so entstandene Monster ein Labyrinth, in das die tributpflichtigen Athener alljährlich Menschenopfer liefern müssen. Auftritt Theseus, Sohn des Königs von Athen. Er kommt nach Kreta, um den Minotaurus zu töten. Mit Hilfe eines Wollfadens, den ihm auf Anraten von Daidalos die in Theseus verliebte Ariadne, die Tochter von Minos und Pasiphaë, mit auf den Weg gibt, findet Theseus nach vollbrachter Tat wieder aus dem Labyrinth heraus und verlässt Kreta mit Ariadne an Bord, setzt sie dann jedoch auf der Insel Naxos aus. Daidalos wiederum wird gemeinsam mit seinem Sohn Ikarus von König Minos des Verrats bezichtigt und eingesperrt. Die beiden fliehen auf Schwingen, die sie selbst aus Federn und Wachs gefertigt haben, doch Ikarus fliegt aus Übermut zu nah zur Sonne, das Wachs schmilzt und er stürzt ins Meer. So weit das Sagengeflecht, in das dieser Roman eingebettet ist.
Fondraz’ Ausgangsthese: Genetisch ist es nicht möglich, ein Mischwesen Mensch-Stier zu zeugen. Aber irgendetwas Wahres könnte doch dran sein an dieser Geschichte. Nur was?
Daraus spinnt die Autorin mit viel Wissen um die damalige Zeit ihre eigene Version mit einem dezidiert feministischen Touch. (Achtung Spoiler!)
Es herrscht nicht Minos, sondern die Minas Pasiphaë. An ihrer Seite der Königingemahl Nethelaos. Wie der sagenumwobene Minos ist auch Pasiphaë nur mit Hilfe anderer auf den Thron gekommen, in ihrem Fall mit Hilfe eines von ihr selbst bestellten schatzbeladenen Schiffs, das die Menschen des Stadtstaates Knossos so beeindruckt, dass nicht ihre Schwester, sondern sie zur Königin gewählt wird.
Dem Schiff entsteigt zum Schluss ein wunderschöner nordischer Sklave, Tauros genannt, der Pasiphaë sofort gefällt. Pasiphaë gebiert danach jedoch kein Monster, sondern einen hellhäutigen Sohn namens Asterion, der Jahre später just zu der Zeit tot aufgefunden wird, als sich Theseus in Knossos aufhält und ungeschickt um die Gunst von Ariadne wirbt. Theseus selbst wie auch Ariadne sind nach Auffindung des toten Asterion verschwunden. Daidalos und Ikarus werden verdächtigt, etwas mit dem Tod Asterions und dem Verschwinden des Atheners Theseus zu tun zu haben, denn Daidalos ist selbst Athener, wenn auch von dort verbannt.
In Rückblenden auf verschiedene Zeitebenen wird nun der Frage nachgegangen, was sich tatsächlich in der Nacht, als Asterion umgekommen ist, zugetragen hat und was Tage, Monate, Jahre davor zu seinem Tod geführt haben mag. Das liest sich spannend und die Leserin beginnt, verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen, obwohl sich Fondraz bei aller Phantasie an die Grundzüge des Mythos hält.
Auch bei Fondraz spielt der Baumeister Daidalos die Rolle des Ermöglichers einer Vereinigung zwischen der Minas und Tauros, denn die Königin will ungesehen und unerkannt zum Sklaven gelangen, und dafür sind einige bauliche Veränderungen am Palast von Knossos erforderlich.
Auch bei Fondraz hat ein Wollknäuel Theseus geholfen, von Asterions Gemach zurückzufinden, aber hat er ihn ermordet?
Auch bei Fondraz fährt er überhastet ab, mit Ariadne an Bord, nur weiß er nichts von ihrer Anwesenheit auf dem Schiff. Und es waren nicht Ariadne und Daidalos, die ihm den Tipp mit dem Wollknäuel gegeben haben.
Auch bei Fondraz werden Daidalos und Ikarus gefangengesetzt und können letztendlich entkommen, doch nicht mit selbstgebastelten Flügeln.
Auch bei Fondraz stürzt Ikarus in den Tod, aber nicht, weil er der Sonne zu nahe gekommen ist, sondern weil er erkannt hat, was für ein Mensch sein Vater tatsächlich ist.
Mehr soll hier nicht verraten werden.
Charlotte Fondraz ist eine pfiffige Neuinterpretation des antiken Mythos gelungen, die allen gefallen wird, die sich für Kreta, den Palast von Knossos und dessen Geschichte interessieren, aber auch allen, die einen neuen Blick auf überlieferte Erzählungen werfen wollen.