Cover des Buches Alles zerfällt (ISBN: 9783596905744)
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Rezension zu Alles zerfällt von Chinua Achebe

Der tiefe Fall eines stolzen Kriegers

von Ginevra vor 9 Jahren

Rezension

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Ginevravor 9 Jahren
Okonkwo ist ein bedeutender Mann in einem Igbo-Dorf im Süden Nigerias, vor der Kolonialisierung durch die Briten. Da sein Vater in seinen Augen faul und träge war, musste Okonkwo sich sein Ansehen erkämpfen - im wahrsten Sinne des Wortes. Beim Faustkampf und bei der Niederschlagung feindlicher Nachbardörfer hat er sich einen Namen gemacht, konnte drei Frauen heiraten und vier Hütten bauen. Er zählt zu den 8 Egwugwu, die hinter der einschüchternden Maskierung alter Ahnen die Gerichtsbarkeit im Dorf ausüben. Jeder Fall von Streit oder Vergehen gegen die Dorfregeln wird mithilfe der Götter entschieden - ein Orakel spielt dabei eine wichtige Rolle, aber auch die Einschätzung und Willkür der angesehendsten Männer im Dorf. Oft geht aber die Menschlichkeit vor, und das Urteil fällt milder aus als erwartet.
Okonkwo steht kurz vor seiner Ernennung zur einer weiteren hohen Ehre, als ein unglücklicher Zufall ihn zwingt, sein Dorf zu verlassen - und sieben Jahre in der Verbannung zu leben. Zwar wird er im Dorf seiner Mutter freundlich aufgenommen, doch trifft er dort auf eine nahezu matriarchalische Kultur - mit völlig verweichlichten Männern. Doch nicht genug: der nächste Kulturschock ereilt ihn bei seiner Rückkehr in sein altes Dorf. Inzwischen haben sich dort nämlich britische Missionare breitgemacht, die mit allen Mitteln versuchen, den Bewohnern ihren Geisterglauben auszutreiben. Erstaunlicherweise haben sie damit sogar Erfolg, denn alle, die unter dem Urteil der Egwugwu und des Geisterorakels gelitten haben, laufen mit fliegenden Fahnen zur neuen Religion über, die völlige Gleichheit und Achtung durch den einen Gott verspricht.
Dabei wird jedoch das Dorf gespalten, Familienstrukturen zerstört, und die alten Traditionen funktionieren nicht mehr. Die Folge ist eine Verunsicherung, Orientierungslosigkeit und Wut, die immer öfter in Gewalt umschlägt.
Wo kann ein echtes Original wie Okonkwo, der vom alten System profitiert hat und das neue ablehnt, da noch seinen Platz finden? Als sich sogar sein ältester Sohn taufen lässt, ist für Okonkwo das Maß voll...

Chinua Achebe, geb. 1930 in Nigeria, schrieb diesen Roman (den ersten seiner Afrika-Trilogie) im Jahr 1958, als Nigeria zwischen Kriegen gebeutelt war und kurz vor seiner Unabhängigkeit stand. Er reagierte mit seinen Romanen auf die abwertenden, negativen Berichte der britischen Ethnologen und LIteraten über die alten Bräuche in seinem Land.
2007 wurde er mit dem Man Booker Preis ausgezeichnet.
2013 starb Achebe in den USA und gilt als einer der "Väter der neuen Weltliteratur".

Mich hat dieses Buch aus mehreren Gründen sehr beeindruckt: zum Einen erfährt man aus dem umfassenden Vorwort der neuen Ausgabe einiges über die Hintergründe der Igbo-Kultur, die mir bereits aus Teju Coles Romanen ein Begriff war. Auch im Roman selbst taucht man in die alltäglichen Probleme und Gepflogenheiten der Dorfbewohner ein, als würde man selbst mitten darin leben. Es gilt z.B. als hohe Ehre, die Frau eines der stärksten Männer im Dorf zu sein - und wenn auch nur als Drittfrau! Der Rang innerhalb des Dorfes ist hart erkämpft und muss ständig verteidigt werden, man kann auf einen Schlag alles verlieren - denn die Weisung der Geister ist oberstes Gesetz. Zwillingsgeburten werden z.B. in den Wald des Bösen verbannt, da sie dem Dorf Unglück bringen würden. Das alles erscheint einem beim Lesen immer logischer und "normaler", da man immer mehr Einblick in das damalige Denken bekommt. Auch Humor und menschliche Widersprüche kommen nicht zu kurz, was die Igbo-Einwohner sehr modern wirken lässt.
Viele Mythen, Märchen, Sprichworte und Erläuterungen runden das Ganze ab.
Für mich ein starker, bild- und wortgewaltiger Roman, bei dem ich einiges über eine alte afrikanische Kultur und die Kolonialisierung lernen durfte.

5 von 5 Sternen und eine Leseempfehlung an alle, die sich für Weltliteratur begeistern lassen!



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