Die Geschichte katapultiert den Leser auf einen anderen Planeten, einen Planeten, auf dem die Bäume geothermisch sind und brummen, die Tiere zwei Herzen haben und dunkelgrünes Blut durch ihre Adern pumpt. Ein Planet, der permanent im Dunkeln lebt – Eden.
Dort begegnen wir John Redlantern, ein 15-jähriger menschlicher Jugendlicher, der sich nichts sehnlicher wünscht als Veränderung. Doch Veränderung ist in seiner Familie, die 532 Mitglieder zählt, nicht gern gesehen. Er und seine Verwandten warten seit 163 Jahren darauf, von Eden abgeholt und zur Erde gebracht zu werden. Daher hat in dieser langen Zeit nie jemand versucht, den bizarren und doch wunderschönen Planeten zu erkunden. Geduldig harren sie in der Nähe eines Steinkreises aus, mit dem ihre Vorfahren (Angela und Tommy) ihre Ankunft mit einem Raumschiff markierten. Alle sind überzeugt, man dürfe sich nicht zu weit von der Siedlung um den Steinkreis herum entfernen, da man sonst von Erde nicht gefunden werden könnte. Alle sind zufrieden, obwohl die Nahrungsquellen knapp werden, die Familie durch Inzucht und eine Form von freier Liebe immer weiter wächst und der Lebensraum zusehends beengter wird.
Alle, außer John. Aus Sorge um die Zukunft seiner Familie und einer eigenen inneren Unruhe heraus beginnt er zu revoltieren. Er stellt das Leben, wie die menschlichen Bewohner von Eden es kannten, komplett auf den Kopf; so sehr, dass sich eine Gruppe Jugendlicher abspaltet und ihr Glück darin sucht, die unentdeckten Territorien des Planeten zu erkunden, um eine neue Heimat zu finden.
Getrieben von dem Wunsch nach Verbesserung ihrer Lebensumstände, werden sie mit Sturheit, Wut und Ignoranz konfrontiert. Sie müssen lernen, dass es nicht leicht ist, mit alten Traditionen zu brechen und darüber hinaus, was es bedeutet, wenn die eigene Familie zum Feind wird.
Auf ihrer Reise entdecken sie völlig neue Seiten ihrer Heimat und decken dabei das große Geheimnis um die Vergangenheit und ihre Vorfahren auf…
„Dark Eden“ ist ein Dystopie-Roman aus der Science Fiction – Ecke, wie er im Buche steht. Alles wirkt fremd und für Menschen lebensfeindlich, trotzdem aber faszinierend und wunderschön. Die Welt, die Chris Beckett beschreibt, gleicht einer giftigen Pflanze: herrlich anzuschauen, aber auf näheren Kontakt sollte man verzichten.
Die Menschen, die dort aufgrund unglücklicher Umstände leben, erscheinen wie Kinder. Fast alles Wissen, dass Angela und Tommy einst von der Erde mitbrachten, ist verloren oder vergessen. Sie wissen nicht, wie man warme Kleidung näht, der Großteil kann weder lesen noch schreiben und 163 Jahre nach der Landung ist man auch nicht mehr ganz sicher, wie Jahre überhaupt gezählt werden.
Die Familie ist durch Inzucht entstanden, daher sind alle mehr oder weniger eng miteinander verwandt. Natürlich hatte dies auch über die Generationen hinweg Auswirkungen, es werden immer mehr Kinder mit schlimmen Hasenscharten oder sogenannten Klauenfüßen (clawfeet) geboren. Es ist zwar bekannt, dass man nicht mit Brüdern, Schwestern oder der eigenen Mutter schlafen sollte, doch warum das so ist, weiß niemand, geschweige denn, dass sie den Zusammenhang zwischen Missbildungen und ihrem Sexualverhalten erkennen würden. Ich muss gestehen, dass mich diese Eigenheit anfangs sehr schockiert hat, die Familie wirkt wie eine Kommune, in der im Grunde jeder mit jedem (natürlich ungeschützt) ein Nümmerchen schieben darf. Sex gehört dort einfach zum Alltag dazu, es ist nichts Außergewöhnliches und auch nichts, dass zwei Menschen auf besondere Art und Weise miteinander verbinden würde. Er hat nur zwei Funktionen: Fortpflanzung und Entspannung. Trotzdem sind die Bewohner von Eden so menschlich, wie sie nur hätten sein können. Beckett hat die typisch humane Eigenschaft, Angst vor allem Neuen zu haben und es kategorisch abzulehnen, wunderbar herausgearbeitet.
Der Widerwille, den eigenen Planeten zu erkunden; der Hass, der der Gruppe um den Protagonisten John Redlantern entgegen schlägt, ist so tiefgreifend und facettenreich beschrieben, dass die Geschichte von diesem Standpunkt aus auch hätte auf unserem Planeten spielen können.
Insgesamt empfand ich die Charaktere als sehr fein und umfangreich konstruiert. Den Hauptteil des Buches bestreitet der Leser aus der Perspektive von John Redlantern, da er trotz vielen Nebenfiguren Protagonist ist und auch bleibt. Beckett dreht die Perspektive jedoch häufiger, indem er (teilweise parallel) andere Figuren einen Teil der Geschichte erzählen lässt. Mir hat das sehr gut gefallen, es war zum Einen eine Möglichkeit, den Protagonisten aus verschiedenen Blickwinkeln kennenzulernen und dadurch einen recht vollständigen Eindruck von ihm zu bekommen, zum Anderen gab es einen hervorragenden Einblick in die Denkweise der Menschen auf Eden.
Der Protagonist John ist ein komplizierter Charakter. Tatsächlich bin ich bis jetzt immer noch nicht sicher, ob er meiner Meinung nach wirklich ein Sympathieträger ist oder nicht. Er versucht zwar, das Leben für alle zu verbessern, ich hatte aber trotzdem oft das Gefühl, dass er auch von egoistischen Motiven getrieben wird. Die bereits erwähnte eigene Unruhe scheint in ihm oft gepaart zu sein mit dem Bedürfnis, etwas Besonderes und Großes zu leisten und dabei zusätzlich noch im Mittelpunkt zu stehen. Wird ihm die zentrale Rolle in den Ereignissen abgesprochen oder von jemand anderem übernommen, fühlt er sich unwohl und trägt sich sofort mit dem Gedanken, wie er auch das zu seinem Vorteil nutzen kann, um sich wieder in den Vordergrund zu rücken.
Des Weiteren ist John ein extrem vorausschauender junger Mann, manchmal sogar ZU vorausschauend und berechnend für sein angegebenes Alter von etwa 15 Jahren. Allerdings half hier die Unsicherheit, was die Zeitrechnung in Eden betrifft, da es genauso gut möglich wäre, dass er bereits etwa 18 Jahre alt ist. Der Leser kann sich nie ganz sicher sein, ebenso wenig wie die Menschen auf Eden. Daher stellte dies für mich kein Hindernis dar.
Dazu passend ist sein manipulatives Wesen, eine seiner dominantesten Eigenschaften. Das ganze Buch über hatte ich den Eindruck, dass ihm zwischenmenschliche Kontakte unglaublich schwer fallen, es sei denn, er will etwas durch sie erreichen. Er scheint immer recht genau zu wissen, welche Knöpfe er bei seinen Gesprächspartnern drücken muss, um sie in die eine oder andere Richtung zu lenken. Doch sobald es um Gefühle geht oder darum, einfach nur das Leben zu spüren, versagt John komplett. Er kann nie loslassen, zerdenkt alles bis ins kleinste Detail.
Außerdem ist John sehr mutig, er hat einen wachen, intelligenten Geist und betätigt sich für die dargestellten Verhältnisse relativ erfolgreich als Erfinder. Es sind gerade seine Fehler, die ihn real erscheinen lassen. John ist kein Held aus dem Bilderbuch. Chris Beckett gab ihm einen vielschichtigen Charakter mit egoistischen Zügen, und dadurch ein durch und durch menschliches und nachvollziehbares Verhalten. Es spielt keine große Rolle, ob der Leser ihn mag oder nicht; er trägt die Geschichte, die sich eigentlich um viel größere Dinge dreht als nur um diesen einen jungen Mann.
Darüber hinaus hat Beckett seinen Roman auf erfrischende Weise durch den Einsatz unterschiedlichster Perspektiven aufgebrochen, wie bereits erwähnt. Daher weiß man nie, wer die Hauptfigur des nächsten Kapitels sein wird. Es erzeugt Spannung und eine gewisse Loslösung von John, was durch seine nicht immer sympathische Art sehr angenehm war. Manche Figuren bekommen mehrere Kapitel, um aus ihrem Blickwinkel zu erzählen, manche nur eines.
Die größte Rolle neben John spielt Tina Spiketree, eine junge Frau in Johns Alter, die ihm letztendlich auch auf seine Reise durch Eden folgt. Sie ist intelligent und scharfzüngig; mit John verbindet sie eine recht komplizierte Beziehung, die auch zu keinem Happy End findet. Dies liegt jedoch nicht an ihr, sondern an John und seinem schwierigen zwischenmenschlichen Verhalten. Tina ist für den Leser der größte und verlässlichste Faktor, um zu verstehen, wie der Protagonist auf die anderen Figuren wirkt.
Ein absolutes Highlight des Buches war für mich die Schreibweise. Die Menschen in Eden neigen dazu, Adjektive mehrfach zu wiederholen, wenn sie ausdrücken möchten, wie sehr sie etwas geärgert, gefreut, erstaunt etc. hat. Anfangs fand ich das befremdlich, es erinnerte mich erneut an die Kommunikation von Kindern, aber im Laufe des Buches habe ich diese Ausdrucksweise wirklich zu schätzen gelernt. Der Autor erlaubte seinen Figuren dadurch einen ganz eigenen Charme.
Zusätzlich verwendet Beckett hin und wieder Worte, die eindeutig ursprünglich von der Erde kommen, auf Eden in den Jahren aber verfälscht und abgeändert wurden. Aus „electricity“ wurde so beispielsweise „lecky-trickity“ und „televison“ wurde zu „telly vision“. Aus linguistischer Sicht stellt das eine absolut plausible Entwicklung dar, denn schließlich sind die einzigen Personen, die sich an diese Worte hätten erinnern können, schon seit Jahrzehnten verstorben. Ich musste über dieses Detail mehrfach schmunzeln und mochte den auflockernden Effekt.
Zusammenfassend erzählt das Buch eine eher ruhige Geschichte, die ohne große Spannungsmomente auskommt. Die Zugkraft geht völlig von der Reise der Gruppe um John Redlantern aus, man wünscht ihnen einfach so sehr, dass sie einen sicheren Platz zum Leben finden und natürlich trieb mich auch die Neugier an, zu erfahren, was die große Entdeckung um die Vorfahren der Familie darstellt.
Im Mittelpunkt stehen absolut zwischenmenschliche Beziehungen in allen ihren Facetten. Chris Beckett hat in der Konstruktion seiner Charaktere sehr viel Feingefühl und Liebe zum Detail bewiesen, wodurch sie glaubhaft und echt wirken.
Dieses Buch ist etwas für all die LeserInnen, die Science Fiction eher kritisch gegenüber stehen, weil sie sich nicht mit der Vorstellung von Aliens anfreunden können. „Dark Eden“ braucht weder abgefahrene, ausgeflippte und eindeutig nicht menschliche Feinde, noch ein besonders umfangreiches, kompliziertes Gesellschaftssystem, um zu überzeugen. Durch und durch menschliche Konflikte, Ängste und Emotionen in einer faszinierenden und befremdlichen Natur reichen völlig aus, um eine fesselnde Geschichte zu erzählen.
Ich kann es guten Gewissens weiter empfehlen.