Am 15. Februar ist der Welt-Angelman-Tag. Das Angelman-Syndrom, das nach dem britischen Kinderneurologen Harry Angelman benannt wurde, entsteht aufgrund eines genetischen Defekts. Hierbei haben die Betroffenen eine starke Entwicklungsverzögerung bezüglich ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten. Dr. Christel Kannegießer-Leitner ist selbst Mutter eines Sohns mit Angelman-Syndrom – aber auch Ärztin mit einem fundierten Fachwissen zu diesem Thema und über andere Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen bei Kindern. Sie hat es sich mit ihrem Buch „Das Angelman-Syndrom besser verstehen“ zum Ziel gesetzt, Betroffenen bzw. deren Angehörigen sowie Fachleuten ein Handbuch zu bieten, das erstmals einen umfangreichen Überblick über das Angelman-Syndrom, dessen Symptome und unterschiedliche Ausprägungen sowie die Behandlungsmethoden gibt.
Rezension Das Angelman-Syndrom besser verstehen von Dr. Christel Kannegießer-Leitner
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag, als ich meine beste Freundin kennenlernte. Es war der erste Schultag am Gymnasium und sie fiel mir mit ihrer blonden Wallemähne sofort auf. Nur wenige Tage später waren wir unzertrennlich und es dauerte nicht lange, bis ich regelmäßig bei ihr zuhause ein- und ausging. Auch ihre Familie nahm mich herzlich auf und so lernte ich schnell nicht nur ihre
beiden ihr zum Verwechseln ähnlich sehenden Schwestern kennen, sondern auch ihren kleinen Bruder Frank. Für die ganze Familie war der Umgang mit Frank nichts Besonderes, sie kannten ihn schließlich sein Leben lang. Für mich hingegen schon. Ich konnte damals nur erkennen, dass Frank anders war, körperlich und geistig, traute mich aber nie so richtig zu fragen, warum. Und wie das oft so ist, gewöhnt man sich schnell an besondere Umstände und schon bald war es auch für mich normal, mit Frank zu lachen und ihn als ganz normalen Teil der Familie zu sehen. Und irgendwie habe ich dann den Zeitpunkt verpasst, mal wirklich zu fragen, was es denn mit Frank und seiner Krankheit, dem Angelman-Syndrom, auf sich hat. Natürlich haben wir später oft über ihn geredet, wie es ihm geht, was er Neues gelernt hat, welche schwierigen Phasen es auch gab, etc. Aber als ich jetzt von der Mutter meiner Freundin, Christel Kannegießer-Leitner, ihr neues Buch zu lesen bekam, „Das Angelman-Syndrom besser verstehen“, war es für mich deshalb super spannend, richtige Fakten über das Syndrom zu lesen und Vieles, was ich in den letzten Jahren bei Frank miterleben durfte, besser zu verstehen.
Obwohl das Thema dieses Buchs sehr speziell ist und sicherlich nichts, was man ohne einen triftigen Grund liest, möchte ich es euch heute, zum Welt-Angelman-Tag vorstellen – weil ich finde, dass es für betroffene Familien und auch für fachlich Interessierte ein tolles Handbuch ist.
Über Dr. Christel Kannegießer-Leitner
Christel Kannegießer-Leitner ist selbst Ärztin und arbeitet in ihrer Praxis mit Kindern wie Frank, die entwicklungsauffällig oder behindert sind. Sie entwickelte hierfür verschiedene Methoden und forschte in den vergangenen 30 Jahren intensiv über das Angelman-Syndrom. Durch ihre Arbeit und Erfahrungen mit Frank entwickelte sie in ihrer Praxis in Rastatt die Psychomotorische Ganzheitstherapie (PMG). Außerdem beschäftigt sie sich auch sehr stark mit ADS/ADHS, LRS, Sprachentwicklungsstörungen und Rechenschwäche und hat dazu schon verschiedene Bücher geschrieben. Gerade durch ihren fachlichen Hintergrund war und ist sie sehr bemüht, Frank die besten Möglichkeiten in seinem Leben zu bieten und ich bin mir sicher, dass ihn diese Bemühungen deutlich weitergebracht haben; weiter als man es anfangs vermutet hatte.
Zum Inhalt von Das Angelman-Syndrom besser verstehen
Im Buch gibt Christel Kannegießer-Leitner zuerst eine kleine Einführung in die Genetik des Angelman-Syndroms. Für mich als Medizin-Laie zugegebenermaßen etwas schwierig, aber da das Buch sich ja ausdrücklich auch an Fachleute richtet, sicherlich hilfreich. Es war für mich auch interessant zu sehen, wie viel dazu in den letzten Jahren geforscht wurde und wie viel Neues man inzwischen über die Krankheit weiß. Danach folgt ein Kapitel über die Symptomatik des Angelman-Syndroms. Hier geht Christel Kannegießer-Leitner auf die einzelnen Symptome ein, die es im Rahmen des Syndroms gibt, erklärt dazu, ob sie auf alle vom Angelman-Syndrom Betroffenen zutrifft oder auf wie viel Prozent der Betroffenen und gibt dazu kurze Erklärungen, oft basierend auf ihren persönlichen Erfahrungen oder denen anderer Patienten. Dieser persönliche Touch macht das Kapitel sehr anschaulich.
In den nachfolgenden Kapiteln wird auf die Themen Motorische Entwicklung, Feinmotorik und Handgeschicklichkeit, Tastempfinden und Körpereigenwahrnehmung, Sehvermögen und visuelle Verarbeitung, Sprachverständnis, Sprache und Kommunikation sowie Kognition und Intelligenz eingegangen. In mehreren Unterkapiteln werden diese verschiedenen Aspekte bei Angelman-Betroffenen beleuchtet. Hierbei versucht Christel Kannegießer-Leitner immer, erst ein allgemeines Grundverständnis zu schaffen. Beim Thema Tastempfinden und Körpereigenwahrnehmung zum Beispiel wird erst erklärt, was alles zum Tastsinn gehört, wie das Thema Tasten mit dem Gehirn
verknüpft ist, wie das Ganze wiederum mit Bewegung und Körperwahrnehmung zusammenhängt, etc. Erst dann beschreibt sie, welche Abweichungen es bei einem Angelman-Betroffenen geben kann. Ich finde das sehr hilfreich, weil man dann besser versteht, was denn beim Angelman-Syndrom anders ist. Zu vielen Details, die hier beschrieben werden, gibt Kannegießer-Leitner Beispiele aus ihrem eigenen Alltag mit Frank oder aus dem anderen Betroffener. Schnell wird einem hierbei klar, wie unterschiedlich ausgeprägt das Syndrom sein kann und wie unterschiedlich stark die Betroffenen hierdurch beeinträchtigt sind. Ich kann mir vorstellen, dass dadurch für die Familien der Betroffenen Vieles klarer wird und sie ihr Kind darin wiedererkennen können.
In den einzelnen Kapiteln werden von Christel Kannegießer-Leitner auch, wo möglich, Übungen und Therapieformen genannt, teilweise auch ein wenig detaillierter beschrieben, die im jeweiligen Bereich helfen können. Wichtig finde ich hierbei, dass die Autorin klarmacht, dass jeder Angelman-Betroffene anders ist und andere Dinge kann oder nicht kann, anders empfindet, anders wahrnimmt. Sie betont, dass man keine unrealistischen Erwartungen haben und dennoch bemüht sein sollte, die Betroffenen zu fördern.
Als es um das Thema Kommunikation und Franks Entwicklung diesbezüglich geht, schreibt sie: „Ich freue mich daran und wir arbeiten jeden Tag ein kleines Stück weiter, wobei ich ihn da abhole, wo er steht und nicht da abhole, wo viele meinen, dass er stehen müsse!“ (Das Angelman-Syndrom besser verstehen, Kannegießer-Leitner, S. 95)
Es folgen Kapitel über Neurotransmitter, welche beim Angelman-Syndrom relevant sind und warum es hier oft eine Dysbalance gibt sowie über Epilepsie beim Angelman-Syndrom. Wie auch in den vorangegangenen Kapiteln wird das Thema Epilepsie erst kurz und anschaulich dargestellt, bevor konkret auf die Epilepsie in Zusammenhang mit dem Angelman-Syndrom und die Behandlungsmethoden eingegangen wird. Anschließend stellt Christel Kannegießer-Leitner noch häufige Begleitsyndrome bei Betroffenen, wie beispielsweise Schlafstörungen, Reflux oder eine häufige Infektanfälligkeit dar und gibt Hinweise, wie man den Betroffenen helfen kann. Es folgt ein Kapitel über das Verhalten der Angelman-Betroffenen. Auch hier stellt sie klar, dass keine ihrer Beschreibungen auf ALLE Betroffenen zutrifft, aber eben auf viele. Es soll den Familien und Ärzten helfen, die Kinder besser zu verstehen und sie zu akzeptieren.
Ein besonders hilfreiches Kapitel ist das über geeignete Therapien beim Angelman-Syndrom. Christel Kannegießer-Leitner nennt und erläutert hier verschiedene Therapieformen und erläutert kurz wie und bei welchen Symptomen sie helfen können. Auf die meisten dieser Therapieformen ist sie bereits vorher in den anderen Kapiteln eingegangen. Ebenso hilfreich ist das Kapitel über „Hilfsmittel“. Diese werden bereits von den Angelman-Familien eingesetzt. Kannegießer-Leitner gibt auch Tipps dazu, wo man diese beziehen kann, denn nicht alle Hilfsmittel kann man eben mal in einem normalen Geschäft kaufen.
Wie Das Angelman-Syndrom besser verstehen helfen kann
Als besonders wichtig sieht Christel Kannegießer-Leitner den Austausch der Betroffenen, ihrer Familien und des Fachpersonals an. Deshalb folgt, quasi als Abschluss des Handbuchs, noch eine umfangreiche Sammlung von Erfahrungsberichten. Jeder einzelne Bericht berührt und lässt spüren, wie anstrengend das Leben mit einem Angelman-Betroffenen ist, aber auch wie schön und voller Liebe und wie viel man erreichen kann, wenn man über das Syndrom informiert ist und sich austauscht. Kannegießer-Leitner betont, dass man über verschiedene Angelman-Vereine, Facebook-Gruppen, Treffen, etc. Kontakte suchen kann und so nicht nur die Gelegenheit erhält, wertvolle Tipps zum Alltag und den Umgang mit Angelman-Betroffenen auszutauschen, sondern auch die Möglichkeit, seine Ängste, Sorgen aber auch die schönen Momente mit Menschen zu teilen, die einen verstehen. In diesem Sinne soll auch dieses Handbuch unterstützen und (Neu-)Betroffenen einen guten Überblick geben über das, was sich die Autorin selbst in den vergangenen 30 Jahren an Wissen und Erfahrungen erarbeitet hat. Ich selbst habe großen Respekt vor allen, die die Verantwortung für einen Angelman-Betroffenen haben. Ich kann mir nicht annährend vorstellen, wie viel körperliche und seelische Kraft das kostet.
Durch ihren fachlichen Hintergrund, das medizinische Fachwissen und die langjährige Erfahrung mit Frank liefert Christel Kannegießer-Leitner hier ein umfassendes, informatives, fachlich fundiertes und dabei sehr gut zu lesendes Handbuch, das jedem, der mit dem Angelman-Syndrom zu tun hat, sei es aus persönlichen oder fachlichen Gründen, eine gute Grundlage bietet, sich auch weiterhin intensiv mit dem Thema zu beschäftigen.