Cover des Buches Die Stecknadeln des Herrn Nabokov (ISBN: 9783630873503)
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Rezension zu Die Stecknadeln des Herrn Nabokov von Christian Haller

Rezension zu "Die Stecknadeln des Herrn Nabokov" von Christian Haller

von HeikeG vor 13 Jahren

Rezension

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HeikeGvor 13 Jahren
Der Experte für Zwischenzeiten . „Das Leben ist der Narr der Zeit, und Zeit muss enden“, so steht es bei Shakespeare. „Doch bis es so weit ist, dass sie endet und mit ihr unser Leben, haben wir keine Zeit - und danach gibt es sie eh nicht mehr.“, schreibt Christian Haller in seinem schmalen Büchlein. . Wir hetzen durchs Leben und Ungeduld und Rastlosigkeit sind unsere ständigen Begleiter. Die zunehmende Beschleunigung des Alltags, von Robert Musil in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ Akzelerismus genannt, galt immer mehr als chic und modern. Tempo war Ausdruck des städtischen Lebensgefühls. Heute werden wir ihr kaum noch Herr. „Das Leben ist der Narr der Zeit - ja, und es hat sein eigenes langsames Vorankommen, das des Wachsens. Muße war das vornehmste Gut des Menschen, ihm als Einziges mit auf den Weg gegeben. Von diesem Gut haben wir nichts mehr, wir haben dafür Waren - und eben keine Zeit.“ Immer mehr Chancen werden verpasst, zu viele wertvolle Menschen im aufgewirbelten Staub übersehen. Entgeht nicht gerade infolge fehlender Aufmerksamkeit für den Augenblick Vieles? Zumal trotz Mechanisierung, Automatisierung und letztendlich Computerisierung der Mensch irgendwie das alte Modell blieb, „urtümlich hergestellt, mit einem biologischen Chassis, einer psychischen Steuerung und einer nicht mehr ganz stimmigen Anpassung an die von ihm selbst geschaffene Welt.“ . Der 1943 im Aargau geborene Christian Haller versucht in seinem wunderbar entschleunigten Buch dieser hohen Rotation zu entkommen, ihr etwas entgegenzusetzen. 27 kurze Texte, die zwischen 2002 und 2009 in der Aargauer Zeitung erschienen und nun erstmals in einem Band vereint sind, lenken unsere luxusverwöhnten Augen auf andere, nicht immer glitzernde Dinge. Haller führt uns weg von den Gadgets der Seele. Denn es sind meist die kleinen, unscheinbaren und unspektakulären Dinge, die Großes bewirken. . Wir begleitet den Schweizer Autor in die Bibliothek seines Kopfes, nehmen teil an einem Gedankenflug durch Gassen, Gärten und Ufer, durch helles, klares Februarlicht, „das in sich schon das Steigen des Jahres trägt und doch noch so winterlicht ist, leicht und flüssig die Luft erfüllt“. Haller erzählt von der wundersamen Metamorphose der Schmetterlinge aus einem „Darm mit viel Füßen“ zu einem filigranen, leichten und flüchtigen Wesen. Der Autor beobachtet Museumsbesucher mit ihren Audioguides, analysiert das Wort Unterhaltung oder sinniert über Aktenshredder im Literaturbetrieb. Er erinnert sich an alte Worte, „halb zugedeckt in einer Seelenfalte“, sinniert beim Radfahren im Park über die Komplexität des Einfachen, sucht sich seine ganz eigene Nische beim Blick in den morgendlichen „Blätterteig der Aktualität“. . Alle seine vielfältigen und vielschichtigen „Lebenszufälligkeiten“ eint eines: Sie werden dem Unscheinbaren gerecht und lassen die Stille neu entdecken: „Selbst die Gedanken, dieses innere Gerede, dieser Lärm einer Selbstbehauptung, wurde aufgesogen wie von einem Fließblatt, trocknete aus zu weißen Wüstenrinnsalen...“ Christian Haller hat genau wie der titelgebende Vladimir Nabokov, „mit dem Netz der Wörter nichts anderes getan (...), als unser flüchtiges Dasein aus dem Licht in die Sprache zu bringen, es über den Tag hinaus in (...) Form festzuhalten.“ Er führt den Leser mit seinen wunderbar ausbalancierten Geschichten aktiv und effizient in verschiedenste Ruhe-Nischen. Worte als „Unterbruch im gleichbleibenden Gang der Dinge“, als Ferien vom Alltag, als Zwischenzeiten, die die Wirkung eines warmen Landregens entfalten. „Lauter Tropfen, die fielen. Lauttropfen, und sie lösten Gefühle und Vorstellungen aus.“ . Der feinfühlige Poet zeigt wie bedeutungslos unsere Wichtigtuer- und Wichtignehmerei eigentlich ist. Seine Erzählungen fungieren perfekt als Übergang aus Alltag und Betriebsamkeit in die Welt der Bilder, in ein inneres Erleben und Wahrnehmen. Hallers Texte lassen Spuren zurück, beruhigen den „Bilderstollen“ des Großhirns und geben uns etwas sehr Wertvolles: „Zurückgewandtsein zur Wurzel“. Denn das „ist Stille. Stille, das ist Rückkehr zur Bestimmung. Rückkehr zur Bestimmung: Das ist Ewigkeit. Wer die Ewigkeit nicht erkennt, der handelt blindlings und unheilvoll.“
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