Rezension zu "Charlotte" von David Foenkinos
"Charlotte" liegt ein schwieriges Thema zugrunde: der Holocaust. Dennoch liest sich das Lebensbild der Malerin Charlotte Salomon sehr angenehm, ist gut verkraftbar. Ich gebe deshalb eine uneingeschränkte Leseempfehlung!
David Foenkinos hat mit „Charlotte“ in zweifacher Hinsicht einen ganz außergewöhnlichen Roman geschrieben. Zum ersten hat er eine biografische Skizze in Versform geliefert: Hauptsatz an Hauptsatz - beinahe stakkatoartig besetzt ein Satz eine ganze Zeile. Zum anderen hat er seine Befindlichkeiten in Bezug auf das zu recherchierende Thema, zuerst das Kind, die Heranwachsende, die Frau und Malerin Charlotte Salomon einfließen lassen.
Durch die Versform, freilich ungereimt, kommt ein ganzes Büchlein zustande. Vielleicht wäre der Stoff zu knapp bemessen gewesen, hätte der Autor es anders geschrieben, denn das Leben von Charlotte Salomon, begabtes Ausnahmetalent, eine Berliner Malerin, war bestürzend kurz. Sie wurde im Alter von 26 Jahren zusammen mit ihrem ungeborenen Kind in Südfrankreich denunziert, verhaftet und in einem Konzentrationslager vergast. Punkt. In einfache Hauptsätze presst Foenkino eigentlich Unaussprechliches, Unfassbares und Ungeheuerliches. Schon in „Souvenirs“ habe ich entdeckt, wie einfühlsam der Autor schwierige Themen auf scheinbar ganz leichte Art präsentiert.
„Es ist leicht, in die Rolle der feschen Arierin zu schlüpfen.
In dieser Rolle erscheint das Leben wunderschön.
Man wird nicht mehr bespuckt.
Man lebt wie Barbara.“
Der Autor sinnt über Charlottes Werk nach, über die Kunst.
„Wörter müssen nicht immer einem Sinn zustreben.
Sie brauchen gar nicht bis zu den Gefühlen vorzudringen.
Sie können auch kopflos durch die Gegend irren.
Und genau darin besteht das Vorrecht des Künstlers.
Er kann in diesem Chaos leben“.
Charlotte Salomon war mir bis dato nicht bekannt. Auch nicht ihr eindrückliches autobiografisches Werk „Leben? Oder Theater?“, in dem sie ihre gesamte Existenz zusammenfasst, ein bebildertes Musikstück, das heute in den Archiven des jüdischen Museums in Amsterdam liegt, wo es selten das Tageslicht erblickt. Hin und wieder wird es jedoch auf Reisen geschickt und Charlotte Salomon bekommt eine Ausstellung. Man sollte diese Bilder öfter anschauen dürfen!
David Foenkinos hat mir Charlotte und ihre Familie sehr nahe gebracht und mir die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus auf eine ganz eigene, lyrische Art ins Herz geschrieben. Ich hätte nicht geglaubt, dass so etwas möglich ist. Besonders jungen Leuten möchte ich dieses Buch empfehlen!
Die Zuordnung zu einem Genre ist schwierig bei diesem Buch, denn es ist kein Roman im eigentlichen Sinne. Diese Hauptsätze sind selber wie eine Ausstellung, Sätze, die einer nach dem anderen an der Wand hängen. Man geht staunend von einem zum anderen. Bleibt davor stehen, denkt nach, läßt den Inhalt widerhallen. Das flüssige Hintereinanderweglesen wie in einem „normalen“ Roman ist demgemäß nicht gegeben. Das macht nichts. In einer Ausstellung nimmt man sich Zeit.
Am ehesten ist „Charlotte“ eine biografische Skizze, eine Ode an ein Naturtalent, dem die Nazis die Luft zum Atmen raubten.
Fazit: Die skizzenhafte Biografie Charlotte Salomons ist großartig, berührend, überzeugend und weit jenseits von dem, was man unterhaltend nennt.
Kategorie: Biografie/ Biografische Skizze
Verlag: Deutsche Verlagsanstalt (DVA), 2015