Cover des Buches Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (ISBN: 9783423138925)
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Rezension zu Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von Christian Kracht

Lenin im Réduit National

von jamal_tuschick vor 9 Jahren

Kurzmeinung: „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ könnte aus tausend Funden bloß zusammengesetzt sein - ein Scherz.

Rezension

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jamal_tuschickvor 9 Jahren
Aus dem Regal gefischt - Christian Krachts „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“

Die Welt auf dem Stand von 1917 - Krieg seit 100 Jahren. So liegen die Verhältnisse in Christian Krachts Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“. Zurückzuführen sind sie auf eine Fantasie, die Lenin aus Zürich nie abfahren ließ. Eine Volte der Weltgeschichte wird geografisch verschoben: in die von afrikanischen Truppen gestützte „Schweizerische Sowjetrepublik“, kurz SSR. Das erzählende Ich ist ein schwarz-schweizer Politkommissär. Der Handlungsschwung ergibt sich in der Verfolgung des konterrevolutionären Sanitätsoffizier Brazhinsky. Der Kommissär vermutet den polnischen Renegaten auf dem Weg ins „afrikanisch verwaltete Oberitalien“, aber doch noch im Réduit National, der 1886 ins Werk gesetzten, ab den 1930er Jahren von Henri Guisan und Samuel Gonard als Trutzeinrichtung organisierten eidgenössischen Alpenfestung. Die archaisierte, mit Fabelwesen bevölkerte, animistisch grundierte Romaneinrichtung lädt zur Verhaftung der üblichen Verdächtigen von Conrad bis Orwell ein. Es raunt und dräut bei Kracht. Trotzdem folge ich Krachts Helden gern, der mit Patronengürteln ins Bett geht, synonymblöd vom Pferd aufs Ross in einer Zeile kommt, und leider auch „die Fäuste ballt“.

„Koreanisch“ ist der Regen. Keiner kennt mehr Frieden. Allgemein richtet sich die eidgenössische Hoffnung auf eine Wunderwaffe. Die Schrift schleicht sich davon, während Leibeigenschaft wieder ins gesellschaftliche Bild passt. Ein Linientreuer reitet durch den Schnee, sein Herz schlägt buchstäblich am rechten Fleck. Er gerät an den kleinwüchsigen Kriegsdienstverweigerer Uriel. Erzengelig opfert sich der Kurze für den Gardisten.

Die Anlage im Massiv liegt ständig unter deutschem Feuer. In der Stollensphäre des Réduit gibt der Arzt Brazhinsky sein Bestes. Er besitzt übermenschliche Kräfte, „sein Wille drückte … mir die Waffe aus der Hand“. Brazhinsky bringt den Verfolger ins Grübeln. Am Ende demissioniert der Eidgenosse. „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ könnte aus tausend Funden bloß zusammengesetzt sein - ein Scherz. Meine Zweifel erinnern mich an eine Bemerkung von Reich-Ranicki. Ich fragte ihn, warum er zu der ad hoc-Beurteilung eines Rolf Dieter Brinkmann-Beitrags (in der Berliner Akademie der Künste 1969) nicht bereit gewesen sei. Hätte er gelobt, meinte Reich-Ranicki, wäre mit der Behauptung zu rechnen gewesen, der Text habe sich in fünf Minuten auf dem Klo ergeben. Manche vermutet man eben alle Zeit in Sperenzchenlaune.

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