Cover des Buches In den Gangs von Neukölln (ISBN: 9783455503203)
Rezension zu In den Gangs von Neukölln von Christian Stahl

Zuerst kommt der Mensch, dann die Menschenordnung? Leben als "Langzeit-Asylant" in Deutschland

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 10 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 10 Jahren

Der Autor erzählt die wahre Geschichte des palästinensischen Flüchtlings Yehya, der mit seiner Familie aus dem Krieg im Libanon in den 1990er Jahren geflüchtet ist und seitdem als "Langzeit-Asylant" über 20 Jahre nun in Neukölln Nord lebt.

Was für die Eltern-Generation noch ein Segen war, aus dem Flüchtlingslagerelend zu entkommen, für das sie Deutschland dankbar ist, wird für die Kinder-Generation zur Hölle. In Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen, haben sie dennoch nicht dieselben Rechte wie ihre Mitschüler: Sie dürfen nicht Berlin verlassen, sie dürfen nicht arbeiten, keinen Führerschein machen, selbst höhere Schulen bedürfen einer Ausnahmeregelung.

So sitzt diese Generation, zu der Yehya gehört, wortwörtlich in Deutschland fest, ohne Perspektive, ohne Integration, stattdessen in einer gewalttätigen Parallelgesellschaft in Neukölln, in der ganz andere Regeln gelten, nämlich das Recht des Stärkeren und der Gewalt. So verwundert es nicht, dass die Jugendlichen schnell straffällig werden, wodurch sie sich jegliche Perspektiven erst recht verspielen.

Der Autor verfolgt die Geschichte von Yehya als Beispiel für eine ganze verlorene Generation, die keine Chance bekommt, in Deutschland oder anderswo jemals heimisch und akzeptiert zu werden (eine Ausweisung ist nicht möglich, da es keinen Staat gibt, der sie aufnehmen würde). Eine Generation, die mit Gewalt und Perspektivlosigkeit aufwächst und von der trotzdem erstaunlicherweise nur wenige so kriminell wie Yehya werden.

Das Buch zeigt auch sehr deutlich die Zwickmühle, in der diese Leute zwischen Arbeitsverbot und Armut leben, die Behördenwillkür und der Irrsinn der Ausländerbehörde (z. B. wollen sie Yehya in die Ukraine ausweisen... ?!?).

Der Erzählstil ist sehr eindringlich und da er dem Ich-Erzähler und Autor folgt, teilweise auch sehr emotional, was aber sehr gelungen ist, da dieses Thema einfach nur emotional angegangen werden kann. Die Gesetze und ihre Konsequenzen für die Menschen werden dagegen so objektiv wie möglich dargestellt. Auch weitere sachliche Fakten und Zahlen werden genannt, die das Einzelschicksal abrunden und als gesellschaftliches Problem deutlich machen!

Mich hat das Buch sehr berührt. Ich habe viele neue Informationen erhalten, die mich teilweise auch deprimiert und wütend zurückgelassen haben.

Fazit: Ein sehr eindrucksvoller Lebensbericht, der eine gesellschaftliche Fehlentwicklung sehr deutlich darstellt und eine Grundlage zum Diskutieren bietet! Sehr zu empfehlen!


(Anmerkung: Das Zitat im Titel stammt aus "Der Hauptmann von Köpenick". Der Film wird u. a. im Buch beschrieben und ich fand ihn thematisch auch sehr passend).

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