Cover des Buches In den Gangs von Neukölln (ISBN: 9783455503203)
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Rezension zu In den Gangs von Neukölln von Christian Stahl

Das andere Deutschland

von seschat vor 10 Jahren

Kurzmeinung: Ein verblüffend ungeschminkter und damit lesenswerter Einblick in ein anderes Deutschland, das der Straße, der Kriminalität u. der Ausländer

Rezension

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seschatvor 10 Jahren

VORGEPLÄNKEL:
Dieses Buch rüttelt auf. Es beschönigt nichts. Es nimmt den Leser gefangen.

INHALT:
"In den Gangs von Neukölln" ist die Geschichte von Yehya E., einem 23-jährigen Palästinenser, der in Deutschland aufgewachsen, kriminell und medial auffällig geworden ist. Er entstammt einer Flüchtlingsfamilie und seine Heimat sind die Straßen Neuköllns. Nur hier findet er Anerkennung und Ablenkung von seiner staatlich verursachten Perspektivlosigkeit. Denn als Staatenloser, sog. Geduldeter mit Residenzpflicht darf er von staatlicher Seite aus Neukölln nicht verlassen, keine Wohnung mieten, keinen Führerschein machen und keiner Arbeit nachgehen. Obschon er bereits mit 8 Jahren das erste Mal straffällig wird, um nach den Gesetzen der Straße nicht als Versager dazustehen, ist er hochintelligent und gewillt eine gute schulische Ausbildung zu absolvieren. Er will raus, aus dem kriminellen Milieu, will auf eigenen Füßen stehen und nicht mehr bei seiner Familie wohnen müssen. Doch das Ausländeramt unterbindet seine schulischen Hoffnungen. Nach der Mittleren Reife ist Schluss, an ein Studium oder gar an einen Job ist nicht zu denken. Was bleibt dann noch? Letzter Ausweg: Intensivstraftäter? Mit 17 Jahren sitzt Yehya in U-Haft.

Mithilfe des Autors schöpft Yehya E. Hoffnung, der gemeinsame Film "Gängsterläufer" bringt großes mediales Interesse und Ruhm. Zwischenzeitlich arbeitet er sogar für den deutschen Staat als Sozialassistent und Deeskalationshelfer. Doch auf den kurzweiligen Aufstieg folgt der abermalige Abstieg. Yehya E. wird wieder straffällig. Gemeinsam mit seinen Kumpels begeht er mehrere Überfälle und wandert dafür für 6 Jahre in die Justizvollzugsanstalt Moabit, wo er noch bis 2018 einsitzt.

MEINUNG:
Der Autor Christian Stahl hat sich mit dem Buch "In den Gangs von Neukölln" an eine brisante Thematik gewagt, doch ohne sich dabei in ausgetretenen Vorurteilen/Klischees gegenüber Ausländern zu verlieren. Sein Porträt über Yehya E. basiert auf 10-jähriger Recherchearbeit. In dieser Zeit tauchte Stahl weiter in die (Lebens-)Welt des Palästinensers ein, indem er sich mit seinem Vater Rached anfreundete und eine Unmenge an Interviews mit Yeyha und dessen Freunden führte. Ausgewähltes Bild- und Textmaterial komplettieren das aufschlussreiche Buch. Der Autor hielt selbst bei Yehyas kriminellen Rückfall an seinem Buchprojekt fest, das den Leser ab der ersten Zeile fesselt; nicht nur weil es aus subjektiver Sicht geschrieben wurde. Es widmet sich kritisch und schonungslos Yehyas Opfer- und Täterrolle und spart nicht an Fakten. Hier treffen wir auf eine bipolare Persönlichkeit; auf einen charmanten, gebildeten jungen Mann und auf einen brutalen, haltlosen Kämpfer. Mehr noch Stahls Bericht offenbart das Versagen des staatlichen Gesetzes- und Rechtssystems. Wie soll man als Geduldeter mit Residenzpflicht aus der kriminellen Spirale ausbrechen können, wenn das Umfeld das Schicksal teilt? Kurzum, viele Fragen, wie die folgenden bleiben unbeantwortet: Wer hat Schuld - Staat oder Yehya selbst? Warum greift keiner ein?

FAZIT:
Lesenswertes, tiefgründiges Buch, das viele Fragen zum Thema Integration aufwirft und sowohl beim deutschen Normalbürger als auch beim Politiker zum Umdenken führen sollte. Denn aus sozialer/beruflicher Perspektivlosigkeit erwachsen Probleme, von deren Folgen wir alle irgendwann betroffen sein werden.
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