Rezension zu "Stalins Mannschaft: Teamarbeit und Tyrannei im Kreml" von Sheila Fitzpatrick
Andreas_OberenderDiktatoren besitzen ungeheure Macht, aber sie herrschen nicht allein. Ohne einen Kreis von vertrauten Mitarbeitern kommen sie nicht aus. Das war bei Stalin nicht anders als bei Hitler oder Mussolini. Während jedermann die führenden Köpfe des nationalsozialistischen Regimes kennt, sind die Männer, mit denen Stalin zusammenarbeitete, nur Fachleuten und Eingeweihten bekannt. Nur wenige von Stalins Mitstreitern wurden zu ihren Lebzeiten und nach ihrem Tode als ernst zu nehmende politische Akteure wahrgenommen, etwa Wjatscheslaw Molotow, der langjährige sowjetische Außenminister. Den meisten Spitzenfunktionären der Stalin-Zeit haftet noch immer der Ruf an, bloße Marionetten, Handlanger und Erfüllungsgehilfen des Diktators gewesen zu sein. In den letzten 25 Jahren konzentrierte sich das Interesse der Forschung hauptsächlich auf Stalin. Etliche seiner engsten Weggefährten und Mitarbeiter haben bis heute keine wissenschaftlich fundierte Biographie erhalten. Mit ihrem Gruppenporträt bietet Sheila Fitzpatrick ein willkommenes Korrektiv zu der einseitigen Fokussierung auf Stalin. Fitzpatrick nimmt nicht nur Stalin in den Blick, sondern die gesamte "Mannschaft", die den Sowjetdiktator im politischen Alltagsgeschäft und im Privatleben umgab. Das Buch schlägt einen Bogen von den 1920er Jahren, als Stalins Mannschaft Gestalt annahm und sich im innerparteilichen Ringen um die Macht durchsetzte, bis in die Zeit nach Stalins Tod, als die Mitstreiter des Diktators mit der Politik des Terrors brachen und einen Neuanfang wagten. Fitzpatrick schildert vierzig Jahre sowjetischer Geschichte aus der Perspektive des kleinen Führungszirkels, der in seinen Händen eine gewaltige Machtfülle konzentrierte und der Sowjetunion ohne Rücksicht auf Verluste eine neue Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung aufzwang. Der Leser kann Stalins Mannschaft durch alle wichtigen – und zum Teil traumatischen – Etappen der frühen Sowjetgeschichte begleiten, vom Nachfolgekampf unter Lenins Erben über den Großen Terror von 1937/38 bis hin zur Entstalinisierung.
Das Buch erschließt keine unbekannten Quellen und bietet auch kein neues Bild der Stalin-Zeit. Fitzpatrick fasst die internationale Forschung zur politischen Geschichte der frühen Sowjetunion, zu Stalin und anderen Spitzenfunktionären gekonnt zusammen. Sie interessiert sich mehr für die menschliche Interaktion an der Spitze der Machthierarchie als für formale Herrschaftsstrukturen und -mechanismen. Wie entstand Stalins Mannschaft, und welche Gemeinsamkeiten bestanden zwischen Stalin und seinen Mitarbeitern (Werdegang, Mentalität, Bildung, Politikverständnis)? Worauf beruhte Stalins Autorität in den Jahren, als der Generalsekretär nur Erster unter Gleichen war? Wie veränderten sich die Beziehungen innerhalb der Führungsgruppe, als Stalin allmählich aus der Gruppe heraus- und in die Rolle des Diktators hineinwuchs? Welchen politischen Bewegungs- und Handlungsspielraum besaßen die Vertrauten des Diktators in den 1930er Jahren, während des Krieges, in der Nachkriegszeit? Ab Mitte der 1930er Jahre war Stalin Herr über Leben und Tod seiner Getreuen, aber zu keinem Zeitpunkt konnte er auf einen Kreis von Mitstreitern verzichten, die Anteil an der Macht hatten und wichtige Aufgaben wahrnahmen. Eine vollständige Absage an die Herrschaft im (kleinen) Kollektiv war nicht möglich. Stalins Mannschaft bestand nicht aus Hohlköpfen und Taugenichtsen, sondern aus hartgesottenen, energischen, durchsetzungsstarken Tatmenschen, die Schlüsselpositionen im Partei- und Staatsapparat bekleideten und in manchen Fällen ganze Industriezweige leiteten. Das landläufig als Stalinismus bezeichnete System war nicht allein Stalins Schöpfung; es war das gemeinschaftliche Werk eines Teams, das entschlossen war, die Sowjetunion binnen kürzester Zeit in die Moderne zu hieven, mochte das auch für die Bevölkerung mit unsäglichen Opfern und Entbehrungen verbunden sein. Bemerkenswert ist, dass gerade jene Männer, die jahrzehntelang eng mit Stalin zusammengearbeitet hatten, Einsicht und Mut aufbrachten, die Sowjetunion aus der Sackgasse zu führen, in die der gewalttätige Diktator sie gegen Ende seines Lebens getrieben hatte. Aus einigen Stalinisten – keineswegs allen – wurden Reformer. Nikita Chruschtschow vollzog den geordneten Übergang in ein neues Herrschaftssystem, das ohne Terror und Massenrepression auskam.
Sheila Fitzpatricks Buch ist all jenen Lesern zu empfehlen, die ein Bild von der politischen Geschichte der frühen Sowjetunion gewinnen wollen, das Stalin und die anderen maßgeblichen Akteure in den Mittelpunkt stellt. Das Buch zeigt anschaulich, wie die "hohe Politik" unter Stalin funktionierte.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Juni 2017 auf Amazon gepostet)