"K.O." von Maurizio Fiorino hat mich tief berührt und in seinen Bann gezogen. Die klare Sprache, die eindringliche Geschichte von Biagio und die Atmosphäre des süditalienischen Dorfes in den 80er Jahren haben mich fasziniert. Die emotionale Entwicklung von Biagio und die Schwierigkeit, authentische Liebe zu zeigen, sind der rote Faden der Handlung. Der Schreibstil ist flüssig, aber ich hätte gerne noch mehr Einblick in Biagios Gefühlswelt gehabt. Trotzdem ist "K.O." ein beeindruckendes literarisches Werk, das lange nachwirkt und zum Nachdenken anregt. Eine absolute Leseempfehlung!
Christiane Burkhardt
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
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Im Verlauf des Buches wird deutlich, wie schwer es Biagio fällt, authentische Liebe zu verspüren, diese anzunehmen und offen zu zeigen. Dieser emotionale Konflikt zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung.
Es gibt z.B. keine sexuelle Erforschung der Körper und die Verbindung zum Vater erscheint erdrückend. Es erinnert mich an literarische Werke wie z.B. ,,Der Vorleser“ eine ganz eigene Welt, die auch so stattgefunden haben könnte. Und dies verspürte ich auch beim lesen dieser Handlung, die so authentisch erscheint, obwohl die Umgebung, der Umgang und die Figuren so anders erscheinen.
Der Schreibstil lies sich flüssig lesen und ich wollte immer mehr erfahren, obwohl keine großen Wendungen passierten, aber Ereignisse den Lebenslauf von Biagio beeinflussten.
Ich hätte gerne noch mehr über die Gefühlswelt von Biagio erfahren, um einfach noch mehr verstehen zu können, warum er in manchen Situationen so handelte.
Ein wahnsinnig gutes literarisches Werk, welches ich nochmal Lesen würde!
K.O. erzählt Biagios Geschichte. Er wächst als Sohn des Metzgers in einem kleinen Dorf in Süditalien auf. Biagio lässt uns in einige Episoden seines Lebens reinschauen. Ein kurzer Einblick, mehr erhalten wir nicht. Dennoch ist die Trostlosigkeit seines Lebens in jeder Zeile des Romans spürbar.
Mir fiel es daher nicht immer leicht, das Buch zu lesen. Es ist deprimierend und schlägt auf das Gemüt. Dennoch ist es ein wichtiges Zeugnis einer Generation aus Süditalien. Die Lieblosigkeit der Erziehung wird in vielen Momenten deutlich. Und am Ende frage ich mich, was genau ich aus dem Buch mitnehme? Ich habe während des Lesens viel über meine eigene Kindheit und mein Aufwachsen nachgedacht und reflektiert. Was hätte ich an Biagios Stelle gemacht?
Das Buch hallt nach und hinterlässt seine Spuren.
Vielen Dank für das Rezensionsexemplar.
Gespräche aus der Community
Im archaischen Süditalien der 80er wächst Biagio allein bei seinem Vater, dem Dorfmetzger auf. Dieser ist nach dem Unfalltod seiner Frau nahezu verstummt. In einer Welt, die jeden, der anders ist, zwingt, die eigenen Gefühle herunterzukühlen, als wären sie Rinderhälften, versucht Biagio beharrlich, sich einen Platz zu erkämpfen.
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Hier ist meine Rezension, die ich auch auf Thalia, Amazon und in der Lesejury gepostet habe:
https://www.lovelybooks.de/autor/Maurizio-Fiorino/K-O--9403036284-w/rezension/11600882883/
"Die Sammlerin der verlorenen Wörter" ist der wunderbare Roman von Pip Williams, dessen Geschichte uns nach Oxford Ende des 19. Jahrhunderts versetzt. Wie ist das berühmte Oxford English Dictionary eigentlich entstanden und welche Rolle spielten Frauen dabei? Die junge Esme bemerkt im Buch, dass die männlichen Gelehrten viele Wörter, die Frauen betreffen, einfach nicht ins Wörterbuch aufnehmen. Sie jedoch will diese Wörter unbedingt festhalten und beginnt,
für die Rechte der Frauen zu kämpfen.
Rezension:
Das goldene viktorianische Zeitalter - kein Paradies für Frauen!
Das Buch kommt so ruhig und still daher und dabei brodelt es unter der Oberfläche ohne Ende. All die Ungerechtigkeiten des viktorianischen Zeitalters, all die Ungerechtigkeiten, die in einer reinen Männerwelt mit all ihrem alleinigen Machtanspruch stattfinden und auf Kosten der Frauen gehen!
Aber mal zum Inhalt … Achtung, es wird gespoilert.
Die mutterlose Esme wird von ihrem Vater, einem Sprachwissenschaftler in Oxford zum Ende des 19. Jahrhunderts erzogen. Frauen sind entweder hübsch anzusehen und leise, still mit Handarbeiten und damit beschäftigt, ihren Männern das Leben angenehm zu machen oder werden für dienende Tätigkeiten herangezogen, eigenständiges Denken indes traut man ihnen nicht zu. Aber Esme, ohne die ordnende Hand ihrer Mutter, sitzen unter dem Scriptoriumstisch am Arbeitsplatz ihres Vaters, einem Schuppen im Garten von James Murray, der 1857 damit begonnen hat, das erste allumfassende Wörterbuch der englischen Sprachen herauszubringen, das Oxford English Dictionary. 1883 ist es nach Jahren akribischer Arbeit endlich soweit und der erste Band erscheint. (der letzte, 12. Band, erscheint 1928).
Die englische Sprache in ihrer Gesamtheit soll darin vollständig abgebildet werden und die Nutzung der Wörter mit Beispielen belegt sein.
Esme findet über die Jahre, die sie im Scriptorium als Kind erst noch unter dem Tisch und dann später als junge Frau mit Sortier- und Hilfsarbeiten beschäftigt verbringt, heraus, dass allerdings die Wörter, die von Frauen benutzt werden, in das Wörterbuch „mangels Wichtigkeit“ keinen Eingang finden. Weder Schimpfwörter noch vulgäre Ausdrücke noch Wörter, die die Frauen der unteren Bevölkerungsschichten, die zur damaligen Zeit kaum lesen und schreiben gelernt haben, benutzten. Fast so, als ob ein guter Teil der anderen Hälfte der Weltbevölkerung für die Männerwelt einfach unsichtbar ist. Esme beginnt, in einem Koffer all die aussortierten Belegzettel zu sammeln und fügt später auch selbst erstellte Belegzettel mit all den neu gehörten Wörtern hinzu.
Parallel läuft dazu die Geschichte, wie Esme von einem Kind zu einer jungen Frau heranwächst, furchtbar unter einer Internatsschule leidet, später von Murray im Scriptorium angestellt wird; wie sie mit dem abwertenden Umgang ihr gegenüber von Kollegen umgeht, eine junge Frau kennenlernt, die sie in die politische Welt der Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht mitnimmt. Sie verliebt sich, sie gibt sich hin und für die damalige Zeit fällt sie mit dem Ergebnis ihrer Beziehung tief. Doch immer wieder wird sie von ihrer heißgeliebten Tante gerettet, die selbst nicht in die viktorianische Gesellschaft passt.
1.
Die Einführung in das Leben des damaligen Oxford ist gelungen. Die Gelehrten bleiben unter sich und widmen sich ihrer wichtigen wissenschaftlichen Arbeit. Wirklich Zeit hat keiner so richtig für das mutterlose Kind Esme und so sitzt sie dann in den (offenbar langen) Mittagspausen der Schule unter dem großen Arbeitstisch im Scriptorium, wo ihr Vater und andere an dem großen Projekt eines Wörterbuches für die englische Sprache arbeiten. Die klassischen Mädchendinge, die zur damaligen Zeit unabdingbar gelernt werden wollen, gehen fast vollkommen ihr vorbei. So wächst sie zwischen Dorfschule und den sie hänselnden Schüler und Männerbeinen unter einem Tisch auf, sammelt Zettel und versucht, den Wörtern auf den Grund zu gehen, um die Welt verstehen zu lernen. Einzig Lizzie, die "Dienstmagd" des Arbeitgebers ihres Vaters, und die Köchin kümmern sich um Esme.
Sie sitzt quasi zwischen den Welten der Reichen (Mr. Murphy, mit Dienstboten) und Hausangestellten (Lizzie und Mrs. B., die Köchin), nicht angenommen und akzeptiert von den Kindern in der Schule und offenbar auch nicht der richtige Umgang mit den Kindern von Mr. Murphy, in dessen Garten das Scriptorium steht. Das Klassenbewusstsein wird hochgehalten, der Umgang mit ihr den Töchtern (aus offenbar besserem Haus) nicht nahe gelegt, obwohl auch ihr Vater ein Gelehrter in Oxford ist.
Esme erzählt aus ihrer Sicht und erklärt die Dinge um sie herum. Die bestehenden Klassenunterschiede fallen ihr zwar auf, rufen aber noch keine Rebellion hervor, sondern werden einfach als gegeben hingenommen.
Esme wird von einem schlampigen Mitarbeiter des Scriptoriums dabei erwischt, dass sie einen Belegzettel mit einem Wort, der ihm heruntergefallen ist, in der Hand hat. Statt sich selbstbewusst zu verteidigen und zu erklären, woher sie den Zettel hat, schweigt sie und wird des Diebstahls "überführt" und aus dem Scriptorium "verbannt".
Hier zeigt sich schon, dass zwischen Männern und Frauen eine große Diskrepanz besteht. Dass sie schon im Alter von 12 Jahren gelernt hat, dass ihr - trotz der besseren Argumente - Männer niemals zugehört hätten. Allein ihr Wort schon kein Gewicht hat, weil sie eine Frau/ein Mädchen ist. Weshalb sie schweigt.
Es tut mir in der Seele weh, wie man mit Frauen und Mädchen damals umgesprungen ist. Dass Intelligenz und Können unterdrückt wurden, damit sie keine Konkurrenz für die Männer darstellten.
Im Alter von 14 Jahren muss Esme ihre gewohnte Umgebung verlassen. Für sie ist es die Bestrafung dafür, dass sie im Schriptorium "als Diebin" aufgefallen ist; und das obwohl sie nur heruntergefallene Zettel aufbewahrt hat. Meist sogar mit aussortierten Wörtern, die es gar nicht in das Wörterbuch geschafft hätten, weil sie in der damit dokumentierten Männerwelt keine Relevanz hatten.
2.
Esme wird langsam erwachsen. Sie ist 14 und muss ihr Zuhause und ihre gewohnte Umgebung verlassen, um in einem Internat eine weitere angemessene Ausbildung zu bekommen.
Es wird kein Mitdenken, keine selbstständiges Denken, keine "wissenschaftliche" Arbeit und kein Nachforschen gefordert, sondern (offenbar) stupides Auswendiglernen und gutes Benehmen. Esme hasst die Schule, die sie in allen Freiheiten, die sie als Kind bei ihrer eigenen Tagesgestaltung hatte, beraubt.
Die Erwachsenen, denen sie anvertraut ist, lesen ihre nichtssagenden Briefe, die bis zur Unkenntlichkeit zensiert wurden und neu geschrieben werden mussten, ohne dass ihnen die fehlende persönliche Note auffällt. 2,5 Jahre leidet Esme an der Schule Höllenqualen durch körperliche Züchtigung und seelische Grausamkeiten. Einen hellwachen Geist, der so zum Mitdenken und erforschen gebracht worden ist, wie ihrer, derartig zu beschneiden und in die engen Grenzen zu sperren, der einem Frauen-Verstand der damaligen Zeit zugemutet/zugetraut wurde, ist grausam. Esme hat Wörter und Definitionen, die ihr Leben in den Briefen beschreiben würden, und darf sie nicht benutzen, weil engstirnige Menschen ihr dies verbieten.
Wie schlimm muss es gewesen sein, auf geistloses Geplapper und Konversation im Stil der damaligen Zeit hin erzogen zu werden, wenn Frau tatsächlich selbstständige kluge Gedanken hat und so ziemlich jeden Mann intellektuell überflügelt.
Esmes Vater kann nach 2,5 Jahren dann - endlich! - seine Augen nicht mehr vor den Zeichen der körperlichen Züchtigung seines Kindes an der Schule verschließen und sie darf endlich wieder zurück nach Hause. Sie darf nun endlich selbst im Scriptorium arbeiten und Belegzettel sortieren, Briefe öffnen und ausgeliehen Bücher zurückbringen.
Im Wörterbuch fehlt ein Wort und ein Leser macht den Herausgeber darauf aufmerksam. Bondmaid, das erste Wort, das Esme in den Reisekoffer unter Lizzies Bett gelegt hat. Das Wort, dessen Zettel als "unnötig" verworfen worden war. Man hätte ja schon Bondman im Wörterbuch, die weibliche Form wäre durchaus zu vernachlässigen, meinte sie ja ohnehin dasselbe, nur auf Frauen bezogen. Mr. Murray ist am Boden zerstört. Aber Esme lernt von ihrem Vater, dass es eine ganze Menge Wörter gegeben hat, die der derartigen wissenschaftlich die Arbeit an dem "allumfassenden" Wörterbuch immer wieder zum Opfer gefallen sind, deren Bedeutung nur für Frauen wichtig ist, und die die Männer deshalb entbehrlich finden. Ein Buch, dass ALLE Wörter (auch die "unnötigen" - weil nur für Frauen interessanten -) aufliste, wäre so dick, dass sich das kein Mensch mehr zulegte.
(Ich fühle mich an "The Handsmaid's Tale" erinnert und an "Vox". Wie bringt man Frauen zum Verstummen? Man schränkt ihren Wortschatz ein, man beschränkt ihre Bildung auf Bagatellen und primitive Kenntnisse und verbietet ihnen den Mund oder hört ihnen gar nicht erst zu.
Es ist halt alles normal, was uns heute auf die Barrikaden bringen würde. Respektlosigkeit gegenüber Frauen/Mädchen, dieses "nicht zuhören", diese Gönnerhaftigkeit, wenn "Brotkrumen" als Anerkennung verteilt werden, die Missachtung bis hin zu offener Feindschaft, sobald eine Frau intellektuelle Überlegenheit zeigt.
Wir würden diese Behandlung, wären wir plötzlich in dieser Zeit, als sehr traumatisch erfahren, da bin ich mir sicher. Wenn unsere Meinung nichts mehr zählen sollte, nicht weil wir Unrecht hätten, sondern einfach nur, weil wir Frau sind. Und selbst, wenn wir im Recht wären.)
Die emotionale Tiefe des Romans finde ich nicht in den vermeintlich lautstarken Diskussionen bei der WSPU, sondern bei den erstaunten Augenblicken bei Esme, wenn sie wieder einmal begreift, dass sie als Frau Mensch 2. und 3. Klasse ist, unwichtig, unsichtbar, an den Rand gedrängt, wie im Scriptorium mit ihrem Schreibtisch; nicht würdig, bei den anderen Assistenten am großen Tisch zu sitzen.
All diese unterschwellige, landläufige, immerwährende Zurückweisung von Anerkennung, Respekt, die Missachtung ihres Gesagten, ihrer Meinung ... das wird sie zwar als normal empfunden haben, würde uns aber heutzutage absolut auf die Barrikaden bringen.
Mich macht dieses Buch traurig und zugleich wütend. (Auch "The Handmaid's Tale" und "Vox" waren Bücher, bei denen ich vor Wut und Ärger fast mit den Zähnen geknirscht habe.)
Es ist zwar nur so unterschwellig vorhanden, aber es ist vorhanden. Die Diskriminierung von Meinungen, von Sprache, von Menschen, weil sie das "falsche" Geschlecht haben. Weil Männer Frauen Dummheit, fehlende Intelligenz, fehlendes Verständnis so lange nachgesagt haben, bis die Frauen es selbst geglaubt haben.
Der Roman plätschert nur so ruhig und sacht an der Oberfläche dahin. Die "Kämpfe" finden in den Ungerechtigkeiten statt. In der Schule, in der die Schülerinnen mit körperlichen Züchtigungen traktiert werden, um leise und still und angepasst zu werden (und das Denken einzustellen. Wer nicht denkt, wer sich nicht für die Umwelt interessiert, kommt nicht auf "dumme" Gedanken und zerstört die Männerwelt mit ihrer (herangezüchteten widerspruchslosen) Dienerschaft nicht.)
3.
Esme ist erwachsen und arbeitet im Scriptorium. Selbst nach der Einsicht - vor Jahren - dass es Frauenwörter kaum in das Wörterbuch schaffen, gibt es von ihr kein Aufbegehren. Sie nimmt es einfach hin, wie etwas, was ohnehin nicht geändert werden kann. Weil ohnehin kein Mann jemals zuhören würde. Sie muss sich in dieser männerlastigen Welt bewegen, und tut dies mit der ihr aufgezwungenen Schüchternheit. Dankbar für die "Brotkrumen", die ihr von den Männern am Tisch des Scriptoriums zugeworfen wurden, dem Verfassen einfacher Antwortbriefe, dem Besuch von Bibliotheken zur Rückgabe von Büchern, und dem Sortieren von Belegzetteln. Handreichungen einfachster Art, für die die Studenten, die als Aushilfsassistenten tätig waren, offenbar zu gebildet (oder hochwohlgeboren) waren.
(Mir fallen schon wieder Wissenschaftlerinnen ein, deren Können einfach von den Männern, deren Assistentin sie waren, vereinnahmt wurde. Lise Meitner, Milena Maric etc. Wenn dies nicht aus egoistischer Absicht geschah, dann deshalb, weil auch die Männer wussten, dass die Fachwelt einer Frau einfach grundsätzlich nicht zuhören wollte.)
Esme sammelt inzwischen aktiv Wörter; mit Lizzies Hilfe auf dem Wochenmarkt bei Mabel. Frauenwörter. Schimpfwörter. Ausdrücke, für die sie zu zu Hausse vermutlich bestraft worden wäre. Die Truhe unter Lizzies Bett füllt sich.
Esme lernt auf dem Markt Tilda, eine junge Schauspielerin, und deren Bruder Bill kennen. Tilda zieht sie in ihren Bann. Ausgestattet mit einem für Esme überraschenden Selbstbewusstsein, segelt Tilda durch ihre Welt, das Theater und die WSPU, so dass Esme mit der Forderung nach dem Frauenwahlrecht und den Sufragetten in Kontakt kommt.
Wohin sie schaut, findet sie Wörter, die in das Wörterbuch der Männersprache keinen Eingang finden werden.
Wochen- und Monatelang ist Esme mit Tilda und Bill unterwegs, zu fast jeder Vorstellung im Theater. Dann gibt es ein neues Engagemeint für die beiden und sie lassen Esme zurück, die Schwierigkeiten hat, in den alten Trott zu kommen, nachdem sie von der Freiheit von den Konventionen gekostet hat.
Lizzie und die Köchin kennen sich in "Frauendingen" besser aus als die mutterlose Esme, deren Vater durchaus in dieser Beziehung überfordert ist. Und so erkennen sie auch, dass - die davon völlig überraschte - Esme schwanger ist. Keiner hatte sich dafür zuständig gefühlt, dem Mädchen bei Einsetzen der Menstruation zu erklären, wie Kinder zustande kommen. Das Gespräch zwischen Mutter und Tochter fand naturgemäß nie statt. Zu viele Frauenwörter wären für Esmes Vater notwendig gewesen.
Esme entscheidet sich gegen eine Heirat mit dem jungen Bill, den sie von der Schwangerschaft gar nicht erst unterrichtet. Sie will Liebe, Verliebtsein, Leidenschaft, Verlangen, nicht nur die gesellschaftliche Absicherung. Es ist ein weiterer Schritt von Esme in die Selbstbestimmung (nachdem sie schon - unüblich für ihren "Stand" eine Arbeit hat und ohne Ehe Sex mit Bill), auch wenn sie sich immer noch fremdbestimmt fühlt. Es ist ihre Entscheidung, das Kind zu bekommen, auch wenn sie nie wirklich die Wahl hatte; und doch schickt sie sich wieder in die Konventionen der Zeit, die ihr verbieten, das Kind als ledige Mutter zu behalten, wenn sie nicht aus der Gesellschaft ausgestoßen werden will.
Tante Ditte springt (endlich) ein und nimmt Esme für diese Zeit zu sich. Und Esme lernt eine Welt kennen, in der Wissenschaftlerinnen und ihre Ideen respektiert und gefragt werden, in der man ihnen zuhört. Sie erkennt Ansätze von "Gleichberechtigung", von Gleichwertigkeit von Mann und Frau, selbst, wenn jeder andere Dinge beherrscht.
Wieder sammelt Esme Wörter, Frauenwörter, Alltagswörter der einfachen Frauen, für all die hochgestochenen lateinischen Fachausdrücke der Ärzte.
Sie wird dort akzeptiert, weil sie an ihrem Finger einen Ring trägt, der es allen möglich macht, sich einzureden, dass sie ordnungsgemäß verheiratet ist. (wenn auch nur einer der Gäste ihrer Tante ernsthaft darüber nachdenken würde, wieso nirgends ihr vermeintlicher Ehemann auftaucht ... aber: nein. Alle scheinen dennoch Bescheid zu wissen und trotz allem den Schein krampfhaft zu wahren.
Es hat mir das Herz gebrochen, dass Esme ihr Kind, ihre Tochter, den Konventionen der damaligen Zeit gehorchend, weggeben musste. Sie hat noch nicht einmal einen Namen für ihre Tochter gehabt. Und durch die Übersiedlung nach Australien wusste sie, dass sie ihr Kind nie wieder sehen würde. Kein Wunder, dass sie trauert und schier verzweifelt.
Welch ein Loch in ihrem Herzen dieser Verlust hinterlassen haben muss. Welch dunkle Wolke der Trauer und des Verlustes über ihrem Gemüt hängen muss. Endlich empfindet Esme Liebe, überbordende, überquellende Liebe, nicht die distanzierte Zuneigung, die sie zu ihrem Vater hat, ihre egoistische Inanspruchnahme der Zuwendung Lizzies, übervolle Liebe zu ihrem Kind. Und man nimmt es ihr. "Weil es so besser ist."
Ein Satz, den sie vermutlich zu ihrer Abreise ins Internat mehrfach gehört haben dürfte und bei dem sich schnell herausgestellt hat, dass es nicht für sie besser ist, sondern immer nur einfacher für alle anderen.
("Ich will doch nur dein Bestes", ist in meinen Augen derartig verlogen, weil sie derjenige, der ihn äußert, sich selbst dazu auch noch belügt. Er/Sie will das Bequemste für sich selbst, egal was derjenige, dessen Bestes gewollt ist, selbst davon hält. Aber das ist ein anderes Thema.)
a) Ich denke, wenn Esme eine Arbeitertochter gewesen wäre oder Hausangestellte - bondmaid - wie Lizzie, dann hätte eine Schwangerschaft selbstverständlich die sofortige Kündigung nach sich gezogen und sie hätte ohne Familie und Versorgung, ohne Geld und Wohnung auf der Straße gestanden. Esme konnte sich glücklich schätzen, dass sie dem gehobenen Mittelstand angehörte, ihr Vater respektierter Wissenschaftler war. Dass die sehr modern eingestellte Tante Ditte sie mit offenen Armen in Empfang nahm und sich um die kümmerte. Lizzie hing nicht umsonst bei Problemen immer an ihrem Kreuzanhänger. Hilfe von der Kirche durften Frauen nur erwarten, wenn sie "rein" waren, den moralischen Konventionen entsprachen, sonst wurden sie von der Kirche genau (schnell) verstoßen wie von der Familie.
Esme fällt auf, dass in ihrer Situation mit zweierlei Maß gemessen wird. Sie weiß sehr wohl, wie es Frauen wie Lizzie diesbezüglich gegangen wäre. Die Engelmacherin hat ihr das ja in aller Klarheit erklärt, mit den zwei Kategorien Frauen, die zu ihr kommen.
Und der Ring an ihrem Finger änderte an der gesamten Situation - sie ist schwanger - gar nichts. Es änderte nur den Blickwinkel, den Standpunkt von dem aus auf sie geschaut wurde. Sie ist immer noch schwanger, sie ist immer noch ohne den Kindesvater bei ihrer Tante ... aber ist da ein Ring, können sich die Leute, die diese Scharade durchaus durchschaut haben, das Ganze ignorieren, weil sie sich offiziell aufgrund des Ring selbst belügen dürfen.
4.
Esme trauert ihren Kind nach und versinkt in Depressionen. Dass man diese früher mit Luftveränderung, ordentlichem Essen und Wanderungen behandelt hat, mit Erfolg behandelt hat, fasziniert mich.
Mir hat die Freundschaft von Lizzie mit Mrs. Malcom gefallen. Endlich hatte auch Lizzie etwas eigenes und Freude und eine Freundin und vor allem FREIZEIT!
Esmes Vater stirbt und sie bleibt allein zurück. Mutterlos, und nun auch vaterlos, kein Mann und ihre Tochter hat sie auch weggeben müssen.
Und die geliebte Arbeit im Scriptorium wird durch diese unsägliche Bevormundung und Besserwisserei von Mr. Dankworth gestört. Dieser Mann ist in seiner Selbstherrlichkeit und Überheblichkeit einfach nur grauenvoll.
Abgesehen davon, dass er keiner Frau in die Augen blicken kann, geht er auch nicht den offenen Weg, sondern korrigiert "hintenrum", was er für korrigierenswert hält. Er sucht nicht die Diskussion und Wahrheitsfindung, er meint, seine Wahrheit ist die einzig wahre und korrigiert deshalb ohne Rücksprache. Außer gegenüber Esme. Ihr als Frau sagt er direkt, was er von ihrer Arbeit hält. "Fehlerhaft".
Und vielleicht aber nur vom weiblichen Standpunkt aus gesehen. Ich denke da nur an das Wort Xanthippe.
(Die Frauen von damals sind mir alle viel zu leise und brav und still. Ich bin da ganz bei Emmeline Pankhurst. Warum sollten Frauen nicht genauso laut wie Männer sein dürfen?!)
5.
Esme kommt Gareth, einem Setzer und Drucker in der Druckerei, in die sie schon seit Jahren die Belege zur Drucklegung bringt, endlich näher. Endlich hat auch Esme etwas für ihr armes gebeuteltes Herz. Und dann bricht der Krieg aus. Die jungen Männer verschwinden in „Heerscharen“ auf Europas Schlachtfelder und die Daheimgebliebenen, die die Arbeit von vielen verrichten, werden dazu als Feiglinge beschimpft. Gareth kann mit dem Druck von außen nicht umgehen, er gibt nach.
Während mehr und mehr Männer in der Arbeitswelt durch Abwesenheit glänzen, kommt endlich all das Können der Frauen zutage. Sie übernehmen so ziemlich überall das Ruder, damit die Welt im Kriegschaos nicht vollends zusammenbricht. Esme erlangt auch endlich wieder ihr Selbstvertrauen.
Gareth schenkt Esme das wundervollste Geschenk, dass sie erhalten konnte. Jahre vorher war Esme von dem Verleger des Wörterbuchs ob ihrer Idee, aus ihrer Sammlung der Frauenwörter ein eigenes Lexikon zu machen, einfach ausgelacht worden. Es gäbe keinen, der das brauchen könnte. Aber Gareth setzt und druckt und bindet ihre im Koffer gesammelten Belegzettel zu einem „Lexikon der verlorenen Wörter“.
Dass Gareth Esme ihr Buch geschenkt hat, hat mich zu Tränen gerührt. Mein Mann hat mir zum Geburtstag auch mein Erstlingswerk in gedruckter Form geschenkt. (es war bisher nur als E-Book erhältlich.) Ich kann Esme so gut verstehen. Ich habe eine halbe Stunde geheult, weil ich mich so durch und durch verstanden gefühlt habe und es ein so unbeschreibliches Gefühlt ist, das eigene Buch, das eigene "Baby", in der Hand zu halten. Esme muss noch stärker berührt haben. Sie hatte gar nicht mehr damit gerechnet, dass ihr Buch jemals das Licht der Welt erblickt. Vor allem, nachdem dieser Verleger sie so rüde abgewiesen hat. „Ein Buch, dass die Welt nicht braucht.“
6.
Wie wunderschön am Ende des Buches doch noch Esmes Tochter Megan kennenlernen zu dürfen. Dazu noch, dass Megan - ganz im Gegensatz zur damaligen Zeit - von ihrer leiblichen Mutter und ihrer Adoption wusste. Wie schön, dass Ditte ihr Lizzies Truhenkoffer mit den Wortzetteln nach Australien schickt.
Auch wenn Esme am Ende des Buches stirbt, die Arbeit war nicht umsonst.
Drei junge Frauen, welche im Rom der 1980er-Jahre das gleiche Schicksal teilen. Eine ungewollte Schwangerschaft stellt die drei Protagonistinnen vor die schwierige Aufgabe, sich für ein neues Leben als Mutter oder gegen dieses zu entscheiden. Eine Geschichte über das Gewicht der eigenen Herkunft und darüber, wie wir zu uns selbst werden. Eine Leserunde mit der Übersetzerin Christiane Burkhardt!
Anbei etwas verspätet meine Rezension:
https://www.lovelybooks.de/autor/Paolo-Di-Paolo/Und-doch-so-fern-3877369641-w/rezension/6587292870/
Vielen Dank für das Leseexemplar!
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