"Der Zug der Waisen" von Christina Baker Kline entführt den Leser in eine spärlich beleuchtete Episode der amerikanischen Geschichte, von der ich für meinen Teil bis dato tatsächlich noch nichts gewusst habe.
Kommen wir aber doch direkt einmal zum Inhalt: New York 1929: Mit neun Jahren verliert Vivian Daly, Tochter irischer Einwanderer, bei einem Brand ihre Familie. Gemeinsam mit anderen Waisen wird sie kurzerhand in einen Zug verfrachtet und in den Mittleren Westen geschickt, wo die Kinder ein neues Zuhause finden sollen. Doch es ist eine Reise ins Ungewisse – nur die wenigsten erwartet ein liebevolles Heim. Und auch Vivian stehen schwere Bewährungsproben bevor. Erst viele Jahrzehnte später eröffnet sich für die inzwischen 91-jährige in der Begegnung mit der rebellischen Molly die Möglichkeit, das Schweigen über ihr Schicksal zu brechen.
Detailgetreu und mit viel akribischer Recherche zeichnet die Autorin den Weg der Waisen- und Straßenkinder im 19. Jahrhundert nach, die von der Ostküste der USA mit sogenannten "Waisenzügen" in den Mittleren Westen gebracht wurden. Zwischen 1854 und 1929 bot eine Initiative an, speziell diese Kinder aus den überfüllten Elendsvierteln New Yorks herauszubringen, um ihnen auf dem Land eine "bessere" Zukunft zu ermöglichen. Was als Akt der Nächstenliebe dargestellt wurde, entpuppte sich hier jedoch oft als eine scheinheilige Fassade, hinter der sich Ausbeutung und Missbrauch verbargen.
Der Roman stellt eingehend dar, wie diese Kinder – viele von ihnen irische Immigrantenkinder – in den ländlichen Regionen wie Ware behandelt wurden. Ohne Schutz und Fürsorge, der Willkür der neuen "Familien" ausgeliefert, mussten die meisten von ihnen nicht nur schwere Arbeit verrichten, sondern waren oft auch schutzlos psychischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt. Besonders interessant ist, wie die Autorin die "adoptierenden" Familien hinterfragt und die brennende Frage aufwirft: War dies jetzt schlicht und einfach eine äußerst naive Initiative und man wusste es nicht besser oder entsprach es doch eher einer gut getarnten Form der Kinderarbeit? Es ist eine bittere Wahrheit, dass für viele Kinder die "Rettung" aus der Stadt letztlich ein Leben ohne Kindheit bedeutete. Denn bis in die 1930er Jahre fehlte es den Vereinigten Staaten an einem sozialen Sicherungsnetz, sodass nach Schätzungen allein in New York mehr als zehntausend (traumatisierte) Kinder auf der Straße lebten. Einige dieser Kinder flohen immer wieder aus ihren neuen Unterkünften, während andere wie fehlerhafte Ware zurückgegeben wurden und von einer Pflegefamilie zur nächsten wanderten. Diejenigen, die es schafften, nannten sich später "Train Riders".
Der Wechsel zwischen den zwei Zeitebenen und die damit einhergehenden Parallelen der Hauptprotagonisten zeigen auf, wie ähnlich sich menschliche Erfahrungen über Generationen hinweg sein können. Vivian, Molly und auch die Nebencharaktere wurden dahingehend ziemlich glaubhaft dargestellt, vor allem die herzensgute Fanny habe ich wirklich gern gehabt.
Obwohl die Thematik demnach wirklich interessant ist, fand ich den Schreib- und Erzählstil stellenweise etwas trocken und langatmig. Zudem konnte ich mich mit der distanzierten und nüchternen Art und Weise der Erzählung nicht immer ganz anfreunden. In Verbindung mit dem doch etwas abrupten Ende, konnte der Funke leider einfach nicht richtig überspringen. Trotzdem hat mir das Buch sehr gut gefallen, auch weil ich solche wahren historischen Ereignisse immer wieder aufs Neue spannend finde. Beim Lesen der Danksagung wird übrigens nochmal deutlich, wie vieler Recherchequellen sich die Autorin bedient hat, wobei ihr auch verschiedene Zeitzeugen eine enorme Hilfe waren. "Der Zug der Waisen“ ist somit eine leise Lektüre, die den Kindern dieser Ära nochmals eine Stimme gibt – eine Geschichte, für die man sich unbedingt genügend Zeit nehmen sollte, da sie sich nicht einfach mal "weglesen" lässt.
>> Man macht die Erfahrung das die meisten Erwachsenen lügen. Dass die meisten Menschen sich nur um sich selbst kümmern. Dass man für andere nur interessant ist, solange man ihnen nützt. Und so entwickelt man seine Persönlichkeit. Man weiß zu viel und dieses Wissen macht einen argwöhnisch. Man wird ängstlich und misstrauisch. Gefühlsäußerungen ergeben sich nicht auf natürliche Weise, also lernt man, sie vorzutäuschen. Zu heucheln. Empathie zur Schau zu stellen, die man nicht empfindet. Und so lernt man zurechtzukommen, wenn man Glück hat, und auszusehen wie alle anderen auch, selbst wenn man innerlich zerbrochen ist. <<