Rezension zu "Endlich allein!" von Christina Peri Rossi
Halte mich, führe mich, lass mich los
Die Zeit steht still; ein Augenblick, ins Unendliche gedehnt. Bewegungslos fixieren sich ihre Blicke, in diesem Moment gibt es nur sie: Ein Mann und eine Frau umkreisen sich lauernd, lassen ihre Körper einander ertasten; stoßen sich ab, um nur einen Atemzug später wieder miteinander zu verschmelzen. Sie verstehen sich ohne Worte; ihre Sprache ist der Tanz, der Welt sinnlichster Tanz: der Tango.
Gerade dieser Tanz steht als Sinnbild für die unendlichen Facetten der Liebe: Leidenschaft und Begehren, Erotik und Hingabe, Melancholie und Wut aber auch Einsamkeit und Sehnsucht. Der Tango ist ein Spiel, das Duell zweier Seelen und zweier Willen, fast einer Ehe gleich, mit einem Mann, der das männliche Klischee erfüllt, mit einer geduldigen, biegsamen Frau, die erst Einhalt gebietet, wenn ihre Grenze erreicht ist. Ein Tanz aus Geben und Nehmen, ewiges Vor und Zurück, nur miteinander möglich.
Das Leben ist ein Tango.
"Wenn das Leben ein Tango ist, sollte man sich den Partner, der uns sicher durch die schwierigen Schrittfolgen führt, gut aussuchen. Dieser Aufgabe widmen wir uns mit großer Hingabe und sehr unterschiedlichem Erfolg." schreibt die uruguayische Autorin Cristina Peri Rossi, in ihrem kleinen Büchlein "Endlich allein!". In fünfzehn, Mal längeren, dann wieder nur aus wenigen Sätzen bestehenden Episoden widmet sich die in Barcelona lebende, mehrfach prämierte, zeitgenössische Lyrikerin, die u. a. bereits mit dem wichtigsten spanischen Lyrikpreis, dem Premio Alberti, ausgezeichnet wurde, dem einzigartigen Thema Liebe. Und dies tut sie so elegant und vielschichtig wie dieser wunderbare Tanz.
Sie gliedert ihr Buch in drei Abschnitte, verleiht dem Titel unterschiedliche Bedeutung. "Endlich allein!" ist - genau wie die Liebe - ein "Theaterstück" in mehreren Akten, eine Sinfonie in drei Sätzen. Vorangestellt hat die Autorin jeweils eine eigenkompositorische Ouvertüre, der divergente Sätze (kurze Episoden) folgen, die an unterschiedlichen Schauplätzen handeln. Nicht immer agieren zwei Menschen - ein Paar - als Hauptakteure. Peri Rossi agiert auf unzähligen Nebenschauplätzen und betrachtet all die verborgenen Phantome, die vielleicht gar aus der Kindheit kommen und unsere "Liebesfähigkeit" beeinflussen.
Der Blitzschlag der Liebe
Der erste Akt beginnt mit dem Paradies auf Erden. Man ist über beide Ohren verliebt, kann nicht mehr schlafen und nichts essen. Schwärmerische Erregung bestimmt den kompletten Tagesablauf, wir schweben in einer völlig subjektiven Dimension. Die Liebe macht uns in diesem Stadium zu Sklaven.
In drei Erzählungen berichtet die Autorin zum Beispiel von einem Tête-à-tête eines 46jährigen verheirateten Mannes mit einer neunzehnjährigen Schauspielstudentin, der während des Liebesspiels von seinem Freund angerufen wird, der ihm voller Verzweiflung von seinem Verlangen für eine seiner Studentinnen berichtet, die - wie sich herausstellt - gerade seine Bettgespielin ist. Doch für ihre Pointe gelingt Peri Rossi noch eine Steigerung. Einfach grandios bringt sie die betrogene Ehefrau ins Spiel.
Das Ziel der Liebe: nicht glücklich zu sein, sondern zu lieben
Nach der unendlichen Verliebtheit beginnt eine neue Phase der Beziehung. "Wenn es den Liebenden gelingt, die Phase des Liebeswahns zu überwinden und statt dessen mehr Wert auf Zuneigung, Respekt und Zärtlichkeit, Verständnis und Erotik (was nicht dasselbe ist wie Sexualität) zu legen, löst sich das 'Nicht mit dir und nicht ohne dich' in ein 'Mit dir' auf.", schreibt die Autorin.
Peri Rossi hat diesem Abschnitt die meisten Geschichten (7) beigesteuert. Da geht es um eine Dreierbeziehung Sohn - Mutter - lesbische Freundin, um eine in Starre und mit steten, nervenden Wiederholungen verfallene Paarbeziehung aus der Sicht der Tochter oder aber um eine, aus der Sicht eines Mannes immer schwerer werdende Wanderung auf einen Gipfel, der jedoch die an ihm klammernde Frau als zunehmende Last und schmerzliche Qual empfindet.
"Sie glaubten, eine Stimme zu sein, und sind doch zwei"
Oft enttäuscht die Liebe. Die zuweilen ideale Überhöhung des Partners hält der Wirklichkeit und dem Alltag nicht stand. "Dann ist nach einigen Jahren aus dem glückseligen, innig herbeigesehnten 'Endlich allein!' voller Hoffnungen und Erwartungen der Verliebten, die beschlossen haben, zusammenzuleben, jenes 'Endlich allein!' geworden, das beide Partner nach der Trennung ausrufen.", so Rossi. Fünf weitere Erzählungen beschließen dieses intellektuelle und vielleicht sich erst beim zweiten und dritten Lesen erschließende schmale Buch. Sie handeln von Betrug, Verlassenwerden und Überfordertsein. Und manchmal hilft vielleicht nur der sogenannte endgültige Schlusspunkt. Doch was tun, wenn man ihn nicht findet, sondern irgendwo verlegt hat? Dann bleibt vielleicht nur noch der "mörderische" Alltag, so wie in der kurzen Episode "Alltagsleben" beschrieben:
"Sie reicht mir den Schal und lächelt mich liebevoll an: Sie hofft, dass mich an der nächsten Straßenecke eine heftige Windböe stranguliert oder dass ich den Entschluß fasse, mich mit der Nadel zu entleiben, mit der sie mein Hemd geflickt hat. Ich nehme den Schal und lächle zurück: Vielleicht ist es tatsächlich kalt draußen."
So wie der Tango ist auch die partnerschaftliche Liebe ein Bewegungssystem, mit zwei gegensätzlichen, einander ergänzenden Rollen. Die Grundlage beider Systeme ist das Prinzip "Führen und Geführt-Werden", ein fortwährender Dialog.
Und hier schließt sich der Kreis mit dem zu Beginn zitierten Satz Cristina Peri Rossis: "Wenn das Leben ein Tango ist, sollte man sich den Partner, der uns sicher durch die schwierigen Schrittfolgen führt, gut aussuchen."
Fazit:
15 kurze, aber sehr tiefgründige Prosatexte handeln von den unterschiedlichen Phasen der Liebe. Ein Büchlein, in dem man immer wieder blättern kann und das stilsicher von Lisa Grüneisen aus dem Spanischen übertragen wurde.