Rezension zu "Kleine Schule des Fliegens" von Christina Walker
Vom Federn lassen und wieder aufrappeln
Die Kleine Schule des Fliegens zeichnet Verbindungen zwischen Mensch und Vogel.
Quizfrage:
Auf was freut man sich, wenn man den Krebs tatsächlich, nach einer langwierigen, stationären Therapie, gegen die eigenen und Erwartungen Aller um einen herum, besiegt hat?
Richtig:
Auf Zuhause. Auf die Liebsten.
Schade nur, dass Alexander Höch nichts davon bekommt:
Er wird von seiner Frau Eva, pünktlich zur Entlassung aus dem Krankenhaus, in der Wohnung seines Bruders Georg einquartiert. Der treibt sich wirtschaftlich relevant in der Weltgeschichte herum, statt seine Wohnung selbst zu bewohnen. Das trifft sich, denken er und seine Schwägerin: Während das Haus von Alexander und seiner Frau – natürlich auch genau pünktlich zum Therapieende – einer Grundsanierung unterzogen wird, kann der rekonvaleszendierende Bruder doch AirBnB-mäßig in der Wohnung unterkommen, die gerade eh verwaist ist.
Dabei geht das Leben von der Wohnung bzw. dem Häuserblock ab: In den Platanen auf der Straße siedeln sich zunehmend Saatkrähen an, die die Anwohnerschaft zwiespaltet:
In die käsefütternden Hobby-Ornithologen, und die Vogelfeinde mit Verschreckungstendenzen.
Wer bin ich, und wenn ja, mit Haaren oder Federn?
Wir begleiten den Hauptcharakter, der zufällig auch unsere Erzählstimme in Ich-Perspektive ist, durch seine Zeit in dem, was seinen „Big Brother“-Container darstellt: Wie er seine Frau vermisst, in seinem eigentlichen Zuhause am liebsten nach dem Rechten schauen will, den Vogelhassern und -Liebhabern begegnet – und auch in der Begegnung mit einem schleierhaften Charakter, der sich stetig ebenso lautlos wie ein Greifvogel einschleicht:
Melitta Miller, die sich um die Wohnung kümmern soll, irgendwie mit Bruder Georg zu tun hat, und irgendwie auch Alexander kommentiert und mit abnehmendem Nachdruck auch in dessen Alltag herein-interveniert. Sie erweist sich als federführend (hahaha – omg) im spießbürgerlichen Kleinkrieg gegen Team Saatkrähe.
Achtung: In diesem Abschnitt folgt ein Interpretationsansatz mit möglichen Spoilern.
Für mich war dieser Charakter das große Mysterium innerhalb des kleinen Universums, in dem sich die Geschichte abspielt. So oft wie Alexander daran zweifelt, ob die Dame geklingelt hat, bevor sie hinter, neben, vor ihm in der Wohnung erscheint, hat sie für mich etwas Fight-Club-artiges.
Meiner Lesart nach ist es nicht auszuschließen, dass diese Person gar niemals in der Romanrealität existiert hat. Als Alexander sie gegenüber seiner Frau in einer WhatsApp-Nachricht erwähnt, reagiert diese nur mit der Frage, wer „MM“ sei, kann sich auf diese Abkürzung also gar keinen Reim machen. Melitta Miller erscheint zu Anfang der Geschichte zufällig recht parallel mit dem dringenden Bedürfnis, Espresso zu trinken – ein amüsierter Schelm, wer hier schon mit dem Kombinieren der Hinweise beginnt!
Melitta Miller ist gut möglich der Zeitvertreib eines noch müden Geistes, der eine Weile in Isolation lebt, nach Wochen oder gar Monaten in einem Krankenhaus voller Menschen und Geräusche – wer würde da nicht ein bisschen Action in die plötzliche Stille hereinimaginieren?
Am Ende verlässt sie die Geschichte und segnet das Zeitliche genau dann, wo Alexander sie nicht mehr braucht – mit dem nahenden Abschied von Georgs Wohnung und dem Wiedereinzug ins heimische Haus, mit der geliebten Familie. Klingt doch fast wie ein schlauer Plot, den sich das Schriftsteller-Hirn des Charakters passgenau einfallen ließ – oder?
ENDE SPOILER
Überall Krähen
Alexanders kontinuierliche Begleiter sind während des ganzen Romans die Saatkrähen -zuverlässiger als jede menschliche Rolle, die auf den 208 Seiten vorgestellt wird. Alexander Höch, der Schriftsteller ist, lässt seine Gedanken entlang der vogeltragenden Platanen-Äste schweifen und füllt ein paar Seiten in seinem Laptop mit dem, was die Vögel in ihm evozieren. Da ich zufälligerweise erst vor Kurzem ebenfalls ein Buch über Rabenvögel von Christian Bugnyar gelesen habe, kann ich die in den Mund bzw. in die Notizen gelegten Fakten bestätigen und habe mich gefreut, dass auch hier die Käsevorliebe der gefiederten Freunde einen Platz gefunden hat.
Das Leben hat Federn gelassen
Die Vogelwelt macht allerdings nicht vor der Wohnung halt, in der Alexander vor sich hin dümpelt. Hier und da finden sich Federn am Körper und vor allem Richtung Kopf der menschlichen Hauptfigur wieder – ein kahler Kopf. Alexander und sein Körper, haben, wortwörtlich, Federn gelassen – Entschuldigung, es gibt zu viele schöne Wortspiele und geflügelte Wörter dieser Art!
Auftrieb durch Widerstand
Der Kampf der Nachbarschaft gegen die Vögel, zugunsten ihres zukünftig wieder makellosen Autolacks, bringt Alexander schließlich zu wagemutigen Aktionen für jemanden, der sich frisch in der Rekonvaleszenz. So hängt er sich zum Beispiel übers Balkongitter, um Batterien aus Ultraschall-Vergrämungsgerätschaften zu entfernen. So wird der Verlauf der Kleinen Schule des Fliegens für den Autor zu einer energiespendenden Angelegenheit, die seinen Gedanken wieder Flügel verleiht (ach ich liebe diese doofen Kalauer) und ihn selbst Auftrieb gibt, statt nur mit dem Wind zu treiben.
Fazit
Ausnahmsweise habe ich mir vor dem Verfassen dieser Besprechung angesehen, was andere Leute zum Buch gesagt haben (weil ich neugierig war, ob sie bestimmte Fragezeichen genauso wie ich hatten, und wenn ja, wie sie diese für sich beantworten). Dem Punkt „eigentlich passiert nicht viel“ kann ich mich problemlos anschließen – die Handlung ist weder schnell noch aufgeladen. Es wird viel geschaut, beobachtet, das Meiste scheint mir sowohl räumlich wie persönlich im Innen zu passieren.
Was sich mit dem Ursprungsthema, Krankheit und konkret Krebs, zu einem sinnigen Gesamtbild zusammenfügt.
Durch persönliche Erfahrung im engsten Umfeld finde ich auch getätigte Statements aus den Erfahrungen einer erkrankten Person gelungen, wenn es um Behandlungsfolgen geht: „Die Schleimhäute in Mund und Rachen leiden am meisten mit bei einer Chemotherapie“. Im Nachhinein, bei der Betrachtung der angestrichenen Stellen im Buch, ist überhaupt das Thema Nahrung, schlucken, Hals eins der Leitmotive. Der Krebs und seine Folgen sind also auf subtile Art und Weise das dominante Thema – wenn der Charakter selbst doch wenig zu seiner Erkrankung sagt, eher bei den Vögeln ist. Seine Probleme sieht er (unbewusst) bei den Tieren wieder.
Für wen?
Ich hatte dieses Buch vor einer halben Ewigkeit angefragt, was mir leider zu oft passiert, aber so erlaubt es mir auch einen Überraschungseffekt, wenn ich in der Covergalerie dem Gefühl nach ein Buch aussuche, mit dem es weitergehen soll und bei dem es nun „klickt“ macht.
Die Kleine Schule des Fliegens habe ich an einem äußerst warmen Frühlingsnachmittag in der Hängematte auf dem Balkon sowie an einem warmen Bettvormittag am darauffolgenden Sonntag in zwei Sitzungen durchgelesen. Die Lektüre war kurzweilig, auf eine verträumte Art und Weise irgendwie auch fesselnd – ich wartete doch, dass eine Auflösung erfolge, die aber ausblieb. Was für mich in Ordnung war, bin ich doch Filme und Bücher dieser Art mittlerweile gewöhnt und halbe die Ambivalenz der Möglichkeiten immer besser aus.
Die Kleine Schule des Fliegens benötigt für ein gutes Leseerlebnis einen offenen, anspruchsbefreiten Geist, der sich ebenso wie der Protagonist beobachtend ans Geschehen heranbegibt. Keine voreiligen Schlüsse. Einfach mal schauen, was passiert. Dann steht einer guten Lesezeit nichts mehr im Wege.