Am dritten Tag nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges flohen die Brüder Igor und Georgi Surkis in einem gepanzerten Mercedes-Maibach S 650 nach Ungarn – mit 18 Millionen Dollar im Kofferraum. Das Geld stammte von einem Firmenkonto in der Steueroase Virgin Islands, auf das die UEFA zwischen 1916 und 2019 hunderte Millionen für den ukrainischen Fußballverband bestimmte Euro überwiesen hatte.
Die von dem jungen portugiesischen Whistleblower Rui Pinto veröffentlichten, insgesamt 70 Millionen (!) vertraulichen Dokumente, in denen solche Vorgänge belegt sind, „verschaffen eine klare Sicht auf ein Panoptikum des Irrsinns“, wie der vielfach ausgezeichnete Autor und Journalist Christoph Biermann in seinem neuen Buch „Um jeden Preis – Die wahre Geschichte des modernen Fußballs von 1992 bis heute“ schreibt. Der Basis-Intellektuelle unter den Fußballautoren, in jungen Jahren sozialisiert als treuer Fan von Westfalia Herne und VfL Bochum, schildert die drei Jahrzehnte zwischen der Einführung der Champions League 1992 und der gekauften WM in Katar. Er belegt seine scharfsinnige Bestandsaufnahme mit harten Fakten und Zahlen, ergänzt um skurrile Geschichtchen.
Wussten Sie, dass die Champions League von zwei deutschen Marketingexperten erfunden wurde? Welche Schlüsselrolle der Adidas-Gründer Patriarch Horst „Adi“ Dassler dabei spielte? Wie die Vermarktungs-Maschinerie durch die privaten Fernsehsender immer mehr auf die kommerzielle Spitze getrieben wurde? RAN an die Fleischtöpfe hieß es ab 1992 nicht nur bei SAT 1 mit dem smarten Moderator Reinhold Beckmann, sondern vor allem durch den Satellitensender von Medienmogul Rupert Murdoch in England. Dort wurde im selben Jahr 1992 die Premier League gegründet. Maßgeblicher Treiber für den globalen Erfolg von Champions League und Premier League war der explodierende TV-Markt mit seinen Milliarden-Einnahmen für die britischen Clubs.
Zur Kernproblematik der „Kommodizierung“, des „Zur-Ware-Werdens“ des Fußballs zitiert Christoph Biermann das geflügelte Wort des legendären Bundestrainers Sepp Herberger: „Die Leute gehen zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht.“ Das im amerikanischen Profisport längst eingepreiste Grundprinzip des „Uncertain of Outcome“ wird im europäischen Spitzenfußball ad absurdum geführt.
Der Autor nennt es die „Dominanz der Immergleichen“. So hat der FC Bayern München bekanntlich in diesem Jahr die zehnte Deutsche Meisterschaft in Folge eingetütet. Juventus Turin holte zwischen 2012 und 2021 neunmal, Paris St- Germain siebenmal, Manchester City und der FC Barcelona je fünfmal den nationalen Titel. Auch auf europäischer Ebene waren die immer gleichen Spitzenclubs aus den vier Topnationen England, Spanien, Italien und Deutschland ab der Zeitenwende 1992 spätestens im Viertelfinale weitgehend unter sich.
Die Erkenntnis, dass die Zuschauer eine hohe Unsicherheit darüber wünschen, wie Spiele und Wettbewerbe ausgehen, eskalierte in der panischen Flucht nach vorne mit dem Ziel einer möglichst elitären Super League mit 18 Clubs auf sportlicher Augenhöhe. Am 18. April 2021 kündigten Topclubs wie Real Madrid, FC Barcelona, FC Liverpool, Manchester City und United, Juventus Turin, AC und Inter Mailand auf ihren Websites an, nicht mehr in der Champions League, sondern in einer eigenen Super League antreten zu wollen – finanziert von der US-Bank JP Morgan Chase mit 3,5 Milliarden US-Dollar. Doch die abgehobenen Vereinsbosse hatten die Rechnung ohne die Anhänger gemacht. Nach spontanen Proststürmen wütender Fans wurde die Super League schon 48 Stunden nach ihrer Ausrufung wieder (vorerst) begraben.
Christoph Biermann zeichnet anschaulich nach, wie sehr der Profifußball sich von den „normalen“ Fans entfernt und entfremdet hat. Er befwürwortet den „deutschen Sonderweg“ mit bezahlbaren Eintrittspreisen und der 50 + 1-Regel, die „freundliche“ Übernahmen durch Staatsfirmen autokratischer Regimes wie Katar oder Saudi-Arabien ausschließt. Der basisnahe Reporter des Magazins „11 Freunde“ beschreibt aber auch fachkundig die rasante Entwicklung und ungebrochene Faszination des Fußballspiels, seiner Protagonisten, taktischen Systeme und Verwissenschaftlichung bzw. Digitalisierung seit 1992. Das alles chronologisch ergänzt durch eine Zeittafel (1983 – 2022) am Ende des glänzend geschriebenen Buches.
Sehr pointiert skizziert Biermann auch die Besonderheiten der Superspieler und so unterschiedlicher Supertrainer (Fußball als Kunstrichtung) wie „Total Football“-Visionär Johan Cruyff, Arsène Wenger, Pep Guardiola, José Mourinho, Carlo Ancelotti, Diego Simeone, Jürgen Klopp und Thomas Tuchel.
Ganz nebenbei erfahren wir, dass Weltfußballer Robert Lewandowski auf Anraten seines Schlaftrainers in einem komplett abgedunkelten, auf 21 Grad geheizten Raum stets auf der linken Seite schläft, weil er Rechtshänder ist und - mit der Nachspeise zuerst – rückwärts isst. Cristiano Ronaldo hingegen schläft nicht am Stück, sondern fünfmal täglich je 90 Minuten. Wo die Megastars nie schlafen, ist beim astronomischen Einkommen und – am Beispiel der Rekord-Weltfußballer Cristiano „CR 7“ Ronaldo und Lionel „Leo“ Messi – beim Steuerbetrug im großen Stil.
Für den britischen Schriftsteller Nick Hornby, der im Schicksalsjahr 1992 den Kultbestseller „Fever Pitch“ veröffentlichte, ist die Liebe der Fans tragisch, weil sie letztlich immer enttäuscht wird. Im Text zur Hymne der Champions League heißt es in den drei Sprachen der UEFA: „Ils sont les meilleurs. Sie sind die Besten. These are the champions.“ Die vierte Sprache der UEFA und vor allem der FIFA war und ist die universelle Sprache der hemmungslosen Profitmaximierung. Sieben Millarden Euro Erlöse von der aktuellen Skandal-WM lassen katar(rh)isch grüßen!
Joseph Weisbrod
Christoph Biermann: Um jeden Preis – Die wahre Geschichte des modernen Fußballs von 1992 bis heute. 256 Seiten. 18 Euro. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln