Durchgehalten habe ich aus drei Gründen: erstens möchte ich ein hartes Urteil gut begründen, zweitens hatte ich für das broschierte Büchlein den überteuerten Preis von 15,- Euro bezahlt (schade, dass nicht ein Teil gespendet wird) und drittens sind es nur 108 Seiten mit großem Zeilenabstand und ohne Anspruch, also schnell gelesen.
Man sollte nicht zu viele Erwartungen haben, wenn man ein Buch liest, aber hier dachte ich schon, dass man von einem Deutschen, der in der Ukraine verheiratet ist, eine Menge über den Krieg erfahren kann, wie der Alltag in dieser Stadt Poltawa ist, wie die Menschen damit zurecht kommen, was so alles passiert. Das war dann vorwiegend erst im letzten Drittel der Fall.
Während ich im Charkiwer Kriegstagebuch von Sergej Gerassimow
https://www.lovelybooks.de/autor/Sergej-Gerassimow/Feuerpanorama-5354021154-w/rezension/6086158524/
ganz nebenbei eine Menge über seine Stadt und die Umgebung erfahren habe, war das hier nicht der Fall. So weiß ich nur, dass Poltawa eine 'schöne' Stadt ist, nur ca. 100 km von der russischen Grenze entfernt und dass es schon sehr früh besiedelt wurde. Das nutzt der Autor gleich für die saloppe Aussage:
'Die 'Ukrainer' haben den Germanen das Feueranzünden beigebracht, auch das Kochen, das Reden, das Zeichnen und Töpfern. Herrliche Vorstellung!' (48/49 )
Apropos 'salopp', die Sprache hat mich sehr gestört. Für mich ist das Boulevardzeitungsniveau. Später wurde es besser und der Autor zeigte, dass er auch anders kann. Man mag einwenden, dass es ein persönliches Tagebuch ist. Ja doch, aber muss es in Buchform sprachlich so primitiv sein? Hier einige Beispiel:
was 'keine Sau interessiert' (9) - abgelutschte Behauptung (37) - dumme Sprüche raushauen (52) - das ganze billige Gelaber (87) - Da kommt ein Kumpel von ihm (93) -
'Verdammt! Es hat geschneit! Es liegt Schnee! Unsere Jungs liegen draußen in der Kälte. Gott sei mit euch, Kameraden!' (47) - Dieser Sirenenton ist so ekelhaft (61).
Manchen mag das gefallen, mir nicht. Privat mal so zu sprechen, ist etwas anderes, aber nicht in einem Buch und nicht so oft.
Das Gleiche gilt für die Schimpferei über Putin und die Russen allgemein. Teilweise tue ich das auch, aber nur privat, nur mit wenigen Vertrauten und ich versuche mich zurückzuhalten, der Autor hier nicht und das finde ich in einem Buch in diesem Ausmaß nicht in Ordnung.
'Unter den Russen grassierte politische Schizophrenie' (11)
Vielleicht würde ich das akzeptieren, wenn es näher erläutert und überzeugend begründet würde. So ist es nur wütendes Schimpfen, ebenso wie:
'Die russische Seele bestand aus Größenwahn, Selbsthass und Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber dem Westen.' (11) - 'Angst ist auch Russlands wichtigstes Exportprodukt.' (60)
Über Putin:
'Unter Putin wurde die Schwerkriminalität verstaatlicht' (12) - 'Putin hat keine Skrupel und wird tun, was er am liebsten tut: Angst und Schrecken verbreiten.' (15) - 'Putin schreckt vor nichts zurück, man muss ihm die schlimmstmöglichen Verbrechen zutrauen.' - 'Er ist ganz normal verrückt' (40) - 'ein verbitterter, rachsüchtiger, einsamer und paranoider Geheimdienstler' u.v.m.
Auch an den Deutschen lässt der ostdeutsche Brumme kein gutes Haar, wobei er natürlich teilweise Recht hat, es aber mit seinen teilweise sarkastischen, teils zu verallgemeinernden Äußerungen übertreibt:
'Dass man mit Psychopathen und Massenmördern nicht verhandeln kann, versteht man noch fast 80 Jahren Frieden offenbar nicht.' (18)
Wen genau meint er damit? Solche pauschalisierten Meinungen lassen bei mir ein schales Gefühl zurück. - Soll das ein Stammtischwitz sein:
'Was macht der Deutsche bei Kriegsgefahr? Er arbeitet natürlich. Herrlich.' (30)
Und noch eine ungerechte Verallgemeinerung:
'Deutsche Journalisten kann Putin nicht entlassen, die haben ja freiwillig für ihn gearbeitet.' (68)
Geradezu geschmacklos fand ich die Sache mit den Fahrradschläuchen:
'Die Armee braucht dringend Kompressen, um verletzte Gliedmaßen abzubinden! Auch Fahrradschläuche wären gut, die gibt es derzeit auch nicht. Also bitte, liebe Menschen aus Deutschland, schickt uns Fahrradschläuche! Keine Helme, Schläuche! Danke.' (55)
Das ist natürlich Kritik an Deutschland wegen der Helme, die zu Anfang des Krieges geschickt wurden. Auch ich fand das damals peinlich und zum Schämen, aber hier klingt es makaber.
Und was wird nun inhaltlich geboten? Zu Anfang gibt es viele verworrene, weil unzusammenhängende Sachen, die man nicht wissen muss, z.B. dass er Billard gespielt hat, dass sein nicht leiblicher Sohn 'goldene Hände' hat oder ein blöder Witz. Ich hätte gerne mehr darüber erfahren, wie die Menschen in Poltawa den Krieg erleben, was sie tun, wie sie damit umgehen. Wir erfahren später etwas mehr, aber nach meiner Meinung zu wenig.
Zum Glück gibt es auch einige (relativ) interessante Stellen, aber nur im letzten Drittel: Gedanken über Nationalismus (76) – zum Budapester Memorandum (94) – Überlegungen zu Dauer und Ende des Krieges (91) oder der kurze Bericht über den Raketeneinschlag in einem Schafstall ;-)
Alles in allem kann ich leider wegen des dürftigen Inhalts, des Boulevardniveaus der Sprache und einiger Geschmacklosigkeiten keine Lese-Empfehlung aussprechen. Was für ein Kontrast zum Tagebuch des Sergej Gerassimow!
https://www.lovelybooks.de/autor/Sergej-Gerassimow/Feuerpanorama-5354021154-w/rezension/6086158524/