Cover des Buches No (ISBN: 9783937717302)
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Rezension zu No von Christoph D Brumme

Rezension zu "No" von Christoph D Brumme

von HeikeG vor 16 Jahren

Kurzmeinung: Brumme wirft mit den Augen des kindlichen No einen abgrundtiefen Blick in ein totalitäres kleinbürgerliches Mileu, das im Großen in der dama...

Rezension

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HeikeGvor 16 Jahren
Das Elend in Elend Brumme wirft mit den Augen des kindlichen No einen abgrundtiefen Blick in ein totalitäres kleinbürgerliches Milieu, das im Großen auch in der damaligen DDR und ihrer Autoritätshörigkeit wiederzufinden war. "Vielleicht lag auf Orten ein Fluch, auf Orten und auf Menschen. [...] Ihr Dorf hieß Elend. [...] Er wusste inzwischen, dass der Name Elend nicht von dem Elend kam, obwohl man das glauben konnte, weil das Nachbardorf Sorge hieß. Elend hieß früher 'eli-lenti'. Das war Altes Deutsch und hieß 'in der Fremde, im Ausland'. Die Mönche, die von der anderen Seite des Gebirges aus nach Rom gepilgert waren und hier zum ersten Mal nächtigten, hatten diesen Ort so genannt. Ein Dorf, das Elend hieß, aber eigentlich im Ausland, so dass jeder, der hier wohnte im Elend und im Ausland lebte. Ein Elender war ein Fremdling und ein Fremdling war ein Elender. [...] eigentlich fiel es nur selten jemand auf, welche Bedeutung dieser Name hatte." Mit diesen Worten endet das bedrückende, von Corinna Harfouch eindrucksvoll intonierte Hörbuch "No" von Christoph D. Brumme. Bereits 1994 veröffentlichte der 1962 in Wernigerode geborene Autor seinen bemerkenswerten Debütroman unter dem Titel "Nichts als das". Das Buch erzählt die Geschichte einer Kindheit im Harz, in eben jenem Dörfchen mit Namen Elend. Ein idyllisch gelegener Luftkurort am Fuße des Brockens, eingebettet im wildromantischen Tal der Kalten Bode. 1777 weilte Goethe hier, um seine Abhandlungen über Granit zu schreiben. Er war von der Gegend so beeindruckt, dass er sie in die Walpurgisnachtszene seines Faust I einbrachte. Gemeinsam mit Mephisto flog jener auf dem Besenstiel über den "Hexentanzplatz". Zu DDR-Zeiten durften Fremde das Dorf nur mit Passagierschein betreten. Schlagbäume an jeder Straße, patrouillierende Grenzsoldaten und die gelegentliche Suche nach Grenzflüchtigen gehörten zum Alltag der Bewohner: die deutsch-deutsche Grenze war "bedrohlich" nah. Genauso bedrohlich wie die Sicherheitsvorkehrungen zum Schutze des Arbeiter- und Bauernstaates, sind die Ereignisse hinter den Türen von Nos Familie. Drei Brüder, eine Schwester, eine schweigsame Mutter ohne eigenen Willen und der Vater. Ein Despot, Lehrer von Beruf. Von seinen Schülern wird er geliebt, im privaten jedoch ist er ein unberechenbarer, willkürlich prügelnder Sadist, der seinen Kindern mit einem Haselnussstock im Keller - "damit das niemand hört" - Ordnung, Anstand und Gehorsam beibringt. Die väterlichen Erziehungsversuche enden stets mit "einer vernünftigen Einigung": "No war vernünftig gewesen und hatte eingesehen, dass der Fehler bei ihm lag." Dass er mit seiner Brutalität Seelen zerstört und die irrwitzigen "Erziehungsversuche" seine Kinder in Lügen Ausflucht suchen lässt ("No war ein falscher Fuffziger"), merkt er nicht. Trotzdem bemüht sich No, die Liebe seines Vaters zu finden. Die Wanderungen mit ihm in die wilde Berglandschaft zeugen davon. Da ist der häusliche Arbeitsdienst - für den Vater Ziegelsteine schleppen und Nägel gerade klopfen - schnell vergessen. Er übt sich in Einsicht und versucht, dessen Unberechenbarkeit vorauszuahnen. Bis er älter wird und dem Vater mutig die Stirn bietet. Ein autobiografischer Roman? Auch Christoph Brumme wuchs in Elend auf. Die Eckdaten stimmen. Egal. "No wurde das Alphabet eingeprügelt, aber es öffnete ihm auch den Fluchtraum oder verlieh ihm Gestalt: die Literatur, die Möglichkeit, Fantasien und Ängste zu formulieren. Die Gewalt schafft das Humane, die Fähigkeit zum Lesen.", bekennt der Autor in einem Interview. Auch No sucht Flucht und Kraft in der Literatur - schlüpft unter die Häuptlingsfedern des Chingachgook oder bereist als erster Junge den Südpool. Christoph D. Brumme zielt nicht auf eine vordergründige Dramatik und Anklage, sondern in subtil verarbeiteten Geschichten und kleinen Anekdoten aus dem kindlichen Bewusstsein heraus, weiß er behutsam zu differenzieren. Nicht in Schwarz-Weiß zeigt sich sein "eisiges Höllental", sondern in vielen Farbabstufungen, die trotz alledem nicht verwaschen sind, sondern einen klaren unverstellten Blick auf ein zutiefst kleinbürgerliches Milieu werfen. Er wertet nicht, sondern er erzählt. Die "Beurteilung" überlässt er dem Hörer. Fazit: "No" ist ein kleines, aber feines (Hör-)Buch, das in der akustischen Version mit einer großartigen Sprecherin besetzt wurde. Corinna Harfouch weiß sich einfühlend in die Seele des Protagonisten hineinzufühlen und dessen innere Beobachtungen mit dem notwendigen Fingerspitzengefühl wiederzugeben. Gerade wegen ihrer scheinbar unsentimentalen Vortragsweise, die ohne jedwedes Pathos auskommt, zeichnet sie Nos Leben von überaus großer Intensität.
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