Oh Mann, ich finde kaum Worte, um zu beschreiben, was dieses Buch mit mir gemacht hat. Es beinhaltet das, was ich in Büchern suche: eine Einheit von Sprache, Form und Inhalt in ihrer schönsten Version ♥️.
Dieser Bücherschrankfund ist für mich eine absolute Überraschung. Schon nach wenigen Seiten stellte ich fest, wie gut der im Flattersatz geschriebene Text zu lesen war. Es entstand eine Art Rhythmus, der mich immer weiter lesen ließ und die Welt um mich herum ausschaltete. Und gleich der erste Satz haute mich aus den Socken:“Ich starb 6840 m über dem Meeresspiegel am 04. Mai im Jahr des Pferdes.“ Doch Liam, der Bruder des Ich-Erzählers Gereint, findet ihn in letzter Sekunde und holt ihn mit seiner Stimme zurück. Nur zwei Tage später wird der Retter von einer Lawine erfasst. So startet der Roman, aus der Zukunft erzählt, um uns anschließend an der Vorgeschichte teilhaben zu lassen. Rückblicke auf die Kindheit und Jugend der Brüder an der Küste des Atlantiks sind geprägt durch den Weggang der Mutter mit ihrem Geliebten und die regelmäßigen Kletterausflüge in die nahen Berge mit dem gebrochenen Vater. Durch das Teilhaben an den Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen des Ich-Erzählers kam ich ihm sehr nahe. Ich fühlte und fieberte mit ihm und bangte um ihn. Genauso gewährt uns Gereint Einblicke in die Zukunft, in die Zeit, aus der er uns die Geschichte erzählt. Die Zeit, in der er alles ordnet, sowohl in der realen Welt, als auch in seinem Kopf und in der er eine Entscheidung fällt, die sein ganzes Leben verändern wird.
Durch die Wortgewalt des Autors erstand vor meinem inneren Auge eine Bergwelt von unbeschreiblicher, ehrfurchtsgebietender Schönheit und Erhabenheit, aber auch voller unberechenbarer Gefahren. Ein Nomadenstamm, auf ihrem Weg mit ihren Yaks in die Hochtäler, nimmt die Brüder auf. Sie sind vollkommen unterschiedlich. Liam ist homosexuell, lebt fast wie ein Eremit und ist ein Alleskönner, ein Vorreiter. Gereint ist eher unsicher, mag es aber, unter Menschen zu sein. Er traut sich nicht viel zu und steht im Schatten seines Bruders.
Wir erfahren, wie die Nomaden leben (auch durch die Stimme von Nyema, in die Gereint sich verliebt), und zwar in Einheit mit der Natur, ohne sie bezwingen zu wollen. Zwischen ihnen und der gewaltigen Bergwelt des Transhimmalayas besteht eine spirituelle Verbindung, die buddhistisch geprägt ist. Und so bekommen die Brüder die Chance, diese Welt zu verstehen und dadurch zu sich selbst zu finden.
Die Schönheit der Sprache in ihrer Einheit mit Versmaß und Textinhalt hat mich tief berührt, mit Höhepunkten bei den Beschreibungen der archaischen Bergwelt, der traumgleichen Besteigungen der Berge und des spirituellen, naturnahen Lebens der Nomaden. Das erste, wie auch das letzte Kapitel las ich bereits mehrmals, wie auch einige Verse zwischendurch und doch war der Sog weiterhin spürbar.
Während ich las, fühlte ich mich an einen meiner Lieblingsfilme erinnert, 'Und in der Mitte entspringt ein Fluss' mit Brad Pitt. Auch dies ist eine Geschichte über zwei Brüder, von denen einer stirbt. Es herrscht überwiegend die gleiche Atmosphäre, wie in der hier besprochenen Geschichte, die durchdrungen ist von ambivalenten Gefühlen zwischen zwei Brüdern, von der Suche nach sich selbst, Liebe und Tod und von der Erhabenheit und Schönheit der Natur.
Für mich ein Lebenshighlight! Ich sage nur lesen. lesen, lesen!!!
Christoph Ransmayr
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Christoph Ransmayr
Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Die letzte Welt
Cox
Morbus Kitahara
Der fliegende Berg
Atlas eines ängstlichen Mannes
Der Fallmeister
Der Weg nach Surabaya
Neue Rezensionen zu Christoph Ransmayr
Wer „Atlas eines ängstlichen Mannes“ gelesen hat, ist unweigerlich verloren. Verloren im Universum der Literatur-Droge namens Christoph Ransmayr. Wie es in Selbsthilfegruppen üblich ist, nennt man seinen Namen und gesteht: „Ich bin süchtig“.
Nun ist der schriftstellerische Drogenchemiker Ransmayr aber bekannt dafür, dass er auch ganz gerne experimentiert. Er liebt es, das Design und damit auch die Wirkung seiner Produkte zu verändern, neue „Spielformen des Erzählens“ auszuprobieren.
Stilistisch fast schon konventionelle Romane wie „Die letzte Welt“ und „Morbus Kitahara“ waren es, die ihm überregionale Aufmerksamkeit und internationale Anerkennung einbrachten. Dann aber waren es die kurzen Erzählepisoden seiner vielen Reiseerlebnisse rund um die Welt, die sich im „Atlas eines ängstlichen Mannes“ wie in einem Essay-Band aneinanderreihten.
In „Geständnisse eines Touristen: Ein Verhör“ verbindet er gleich mehrere Komponenten miteinander, die er alle perfekt beherrscht und mit denen er leidenschaftlich gerne spielt, nämlich erzählende Prosa und Fiktion, präsentiert in kleinen Häppchen, die der Leserschaft die Chance geben, mit diesem philosophischen Schnelldenker Schritt zu halten.
In diesem Buch betreibt er zudem – ganz im Sinne einer kapitalistischen Effizienzsteigerung – Literaturrecycling vom Feinsten. Interviews mit ihm und Beiträge über ihn, die irgendwann in den vergangenen Jahren in diversesten internationalen Zeitschriften und renommierten Magazinen veröffentlicht wurden, hat er in diesem Werk zusammengetragen und in ein fiktives Verhör umgewandelt. Protagonist ist einzig und allein der Autor, der die Fragen des unsichtbaren Verhörenden als Einleitung zu seinen Stellungnahmen respektive „Geständnissen“ kurz wiederholt, als hätte er sie nicht richtig verstanden.
Diese Stilform gibt ihm die Gelegenheit, sich zu allen möglichen Lebensthemen zu äußern – zu geschichtlichen Ereignissen und zu Abenteuern, zu Politik und Literatur, zum Schreiben, aber auch zu seinem Umgang mit der Kritik an seinen Werken. In diesem Zusammenhang spart er auch nicht an Selbstkritik an der eigenen Gattung der Schriftsteller. Die „Ahnengalerie der Literaturgeschichte“ sei keine Heldengalerie, sondern ein „Armenhaus und Asyl voller liebes- und geltungssüchtiger Neurotiker“.
Insgesamt ist das Buch zugegebenermaßen sehr schriftstellerei-lastig, was aber überhaupt kein Nachteil ist, sondern für die Leserschaft nichtsdestoweniger eine Vielzahl an bereichernden Erkenntnissen und punktgenau treffenden und gleichzeitig schönen Formulierungen bereithält. Dies sei nur deshalb erwähnt, weil der Titel „Geständnisse eines Touristen“ in dieser Hinsicht falsche Erwartungen weckt. In diesem Buch findet man nicht oder nur kaum die begeisternden Schilderungen seiner Reiserlebnisse und deren sprachlich perfekte Visualisierung, wie man sie aus „Atlas eines ängstlichen Mannes“ im Hinterkopf hat, nein, es sind mehr die universellen, philosophischen Analysen aus der Metaebene, die Ransmayr zum Besten gibt.
Aber auch das ist kein Defizit, kein Abstrich, nur anders, unerwartet, jedoch wie immer maximal intensiv. Nach Sätzen wie
„Heimweh ist vermutlich und grundsätzlich ein Phantomschmerz, weil er sich auf Erinnerungsbilder bezieht, die so oder so ähnlich vielleicht nie existiert haben“
oder
„Wer mit dem Abschied nichts anzufangen weiß, der wird nie etwas überwinden, nie einen Weg finden und nirgendwo ankommen“
muss man zwangsläufig innehalten und die berauschende Wirkung ganz langsam und genießend abklingen lassen, um dann fast schon zwangsläufig auf direktem Weg in die Selbstanalyse einzusteigen.
Warum er all dieses Zitate-Puzzle, all die philosophischen Gedanken, dieses Mosaik anderweitig veröffentlichter Beiträge letztendlich einem Touristen in den Mund gelegt hat, ist eher unlogisch, leicht verwirrend und wird sein Geheimnis bleiben oder das seines Verlages. Diese dadurch verursachte Spur an Verkrampftheit und Verzwungenheit steckt das Gesamtwerk locker weg.
In Summe sind es diese Vielseitigkeit, diese Polyvalenz, die vielen Überraschungseffekte, die Denkanstöße, seine fundierte Lebensweisheit und die Fragezeichen, die diesen Autor Christoph Ransmayr ausmachen, der sich auch als Individuum nicht einfach kategorisieren lässt. Ein Mensch, der sich selbst mit einem sympathischen Augenzwinkern irgendwo zwischen Halbnomade, Weltbürger, hochdekoriertem Autor und wurzelsepphaftem österreichischem Dörfler verortet. Das schlägt sich auch in seinen Werken nieder und das ist es, was ihn immer wieder lesenswert macht.
Schicken Sie Ihre Phantasie auf Reisen oder testen Sie einfach nur Ihre Geografiekenntnisse, indem Sie Nadeln in eine imaginäre Weltkarte stecken. Osterinsel, China, Brasilien, Kalifornien, Marokko, Andalusien, Island, Griechenland, Wien, Neuseeland, Neu Delhi, Nepal, Bolivien, Mexiko, Juan Fernandez Archipel, Irland, Laos, Nordpol, Ontario, Kambodscha, Yokohama, Valparaiso, Pitcairn, Jemen, Sydney, Irland. Stopp! Das sind nur etwa die Hälfte der Orte und Ziele, die Christoph Ransmayr in seinem Atlas eines ängstlichen Mannes wie auf einer geografischen Perlenkette auffädelt.
In siebzig Episoden erzählt der österreichische Autor Kurzgeschichten für Menschen, die gerne reisen und in denen die Ferne immer eine unstillbare Sehnsucht auslöst. Aber seine Zielgruppe sind ohne Zweifel auch all jene Menschen, die nicht gerne reisen, weil er es versteht, Kopfkino vom Feinsten zu entfachen. Man muss schier gar nicht in Burma oder Thailand gewesen sein, denn Ransmayr schafft es, jeden mitzunehmen. Andererseits fragt man sich als Viel- und Dauerreisender, ob man die großartigen Bilder wirklich sehen kann, wenn man niemals an griechischen, arabischen oder asiatischen Orten war?
Nach kurzem Zögern denke ich: Ja, nur eben andere, nicht weniger schöne, nicht weniger bewegende. Denn der Stil, in dem Ransmayr schreibt, ist farbenprächtiger als jeder Film und jede Reisedokumentation. Man kann gar nicht anders, als einzutauchen, wenn er am verschneiten Ufer eines Bergsees im westlichen Himalaya entlang wandert oder wenn er einer Elefantenherde im Urwald von Sri Lanka ausweicht. Seine literarischen Fähigkeiten lassen jede Leserin, jeden Leser erblassen, ziehen einen in den Bann. Vor allem, wenn man selbst gerne schreibt, lässt einen der Autor mit untherapierbaren Minderwertigkeitskomplexen zurück. Seine lyrische Ader ist Garant für 3-D-Bilder im Kopf, für seufzende Emotionen, für ein so häufiges, neidisches Kopfschütteln wie bei kaum einem anderen Autor zuvor. So etwas kann man wahrscheinlich nicht lernen. Das haben auch schon andere erkannt – Ransmayr erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Kleist-Preis und einige mehr. Literaturkenner halten den Nobelpreis schon lange für angemessen.
Bleibt noch die Frage – warum dieser Titel? Atlas, ja, das drängt sich auf. Aber ängstlich?
Ängstlich – weil er sich ohne den Input von außen, vor allem seiner langjährigen Lebensgefährtin, vielleicht nie und nicht so häufig auf den Weg gemacht hätte. Aber vielleicht auch ängstlich, weil große Teile dieses Buches entstanden, als Ransmayr mit einer lebensbedrohlichen Diagnose konfrontiert wurde und dieses Buch vielleicht sogar schon so etwas wie sein Vermächtnis zu werden drohte, ein Rückblick auf ein beispiellos volles und erfülltes Leben.
In diesem Mann sind Erfahrungen, Abenteuer, Wahrnehmungen und Gefühle gespeichert, die jeden Quantencomputer überfordern würden. So viele Bilder, Eindrücke, an denen ein Kopf zu platzen, ein Geist zu explodieren droht. Mit großer Sicherheit muss er auch genau deshalb schreiben, sein Ventil, um all das ein Stück weit zu verarbeiten, beherrschbar zu machen.
Zum Glück, denn so können wir an seinem Leben ein wenig teilhaben, den Weg einige Abschnitte weit mitgehen. Und unseren Vorteil daraus ziehen, uns – in sehr positiver und nicht merkantiler Absicht – bereichern. Der deutsche Philosoph Odo Marquard äußerte sich einmal in diesem Sinne dazu: Wer den Erzählungen und Geschichten anderer Menschen folgt, lebt deren Leben ein Stück weit mit. Und weil das einzelne menschliche Leben eigentlich viel zu kurz ist, muss man das sogar unter allen Umständen tun, muss lesen, zuhören, mitleben. Kaum jemand kann einem so viele Leben schenken wie Christoph Ransmayr.
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