Ein Mann, geboren 1925, Franzose, Jude erzählt das Erwartbare: Besetzung Frankreichs durch die deutsche Armee, Widerstand, Kampf, höchste Lebensgefahr, Befreiung, Gymnasium, Studium, Journalismus, Reisen, Algerienkrieg, erster Film „Warum Israel“, das 12jährige hart erkämpfte Entstehen seines Films „Shoah“. Ein Titel, den man nicht mehr erläutern muss, weil er – ursprünglich von Lanzmann gewählt, um dem Unbenennbaren die Benennung zu verweigern – selbst zum In-Begriff für das als Judenvernichtung, Holocaust Bezeichnete und dessen wirkungsvolles Monument geworden ist.
Das Erwartbare wird so unerwartbar, auf so klarsichtige und leidenschaftliche Weise erzählt, das Leben von Claude Lanzmann ist so voll von Gefahren-und Entscheidungsmomenten, von leidenschaftlichen Gefühlen, Begegnungen und Beziehungen – intellektuellen und erotischen – , dass man mitgerissen wird von einem Erzählfluss, der atemlos macht, das doch zu großen Teilen weit Zurückliegende zum gegenwärtigen Moment werden lässt und die eigenen Wahrnehmung von Welt da, wo sie von Vergangenem und Vergangenheiten erfüllt ist, aufs Intensivste erweitert.
Muss ich das jetzt belegen? Einiges will ich aufzählen und sei es, um dadurch vielleicht ein paar Leser mehr zu gewinnen: Wie der alleinerziehende Vater seine drei Kinder auf das jederzeit mögliche Eindringen deutscher Soldaten auf der Jagd nach jüdischen Franzosen in ihr Heim durch ein nächtliches Training - Wecken, Anziehen, lautlos das Versteck aufsuchen – vorbereitet. Die Mutter, die den Vater verlässt, in Paris die Besatzung dank ihres zweiten Mannes, der auch den Kontakt zu ihren Kindern wiederanknüpft, überlebt. Mehrfache Begegnungen und bewaffnete Kämpfe mit deutschen Soldaten als Jugendlicher. Neugierig auf die Menschen des überwundenen Deutschlands reist Lanzmann dorthin und wird zum Mittagessen auf eine Gut eingeladen, folgt den Dialogen von noch immer unbesiegt scheinenden Wehrmachtsoffizieren, macht mit der Tochter des Hauses einen Rundgang durch das Gut und sieht so das erste KZ, Stuttgart-Vaihingen. Im Berlin schafft er es, im Jahr der Berlin-Blockade 23-jährig ein Seminar für Studenten der Freien Universität in West-Berlin über Antisemitismus zu halten, und ruft damit die französische Besatzungsmacht auf den Plan. Die Liebes- und Denkbeziehung zu Simone de Beauvoir. Das Dreieck Beauvoir - Jean-Paul Sartre - Lanzmann, dessen Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen bis zum Tod von Beauvoir und Sartre andauern. Die Arbeit als Redakteur von Sartres „Les Temps Modernes“. Eine „amour fou“ zu einer nordkoreanischen Krankenschwester während einer Rundreise durch die Diktatur. Große Reportagen, u.a. 1949 über die DDR von innen gesehen, immer wieder über Israel, in das er wiederholt reist. Die Auseinandersetzung mit Entstehung, Aufbau und Entwicklung Israels wird zu seinem Lebensthema, in 12 Jahren entsteht unter schwierigsten Bedingungen der fast 10-stündige Dokumentarfilm Shoah. Dazu hier nichts. Jeder, der das Buch gelesen hat, wird auf die Schnipsel auf You Tube verzichten und ihn ganz sehen wollen. Ich hoffe es. So ging es mir.
DVD-Fassung (566 Min) absolut Medien ISBN 3-89848-846-2
Claude Lanzmann
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Claude Lanzmann
Der patagonische Hase
Das Grab des göttlichen Tauchers
Shoah
Neue Rezensionen zu Claude Lanzmann
Der Titel ist ein Unglück. An einer Stelle im Buch erläutert Lanzmann, warum er diesen unverständlichen und sperrigen Titel, der allenfalls von der Lektüre abschrecken kann, gewählt hat - doch die Erklärung macht es nur noch schlimmer. Sehen wir in Anbetracht des ungeheuren Lebenswerks des Mannes von dieser schlimmen Panne also ab.
- Ein Lebenssüchtiger hat hier eine sehr umfangreiche Erinnerung vorgelegt. Er hat das Buch nicht niedergeschrieben, sondern diktiert und dann dramaturgisch überarbeitet. Wenn ein Filmemacher wie Lanzmann diese Technik anwendet, dann entstehen beim Leser sofort Bilder, Bilderketten, ganze Lebenslandschaften. Bereits als Schüler war Lanzmann Kurier für die Resistance, transportierte Sprengstoff und Waffen. Mit 18 Jahren war er aktiver Partisan. Nach dem Krieg ging er in das Land des ehemaligen Feindes und studierte in Tübingen Philosophie. Zurück in Frankreich, verband ihn eine fast lebenslange Freundschaft mit Sartre und eine leidenschaftliche Beziehung mit de Beauvoir. Noch heute gibt es er Paris eine philospophische Zeitschrift heraus, noch heute (er ist Jahrgang 1925) unterrichtet er das Fach "Dokumentarfilm" an der Sorbonne. In Frankreich war das Buch ein Bestseller, in Deutschland tut man sich immer noch sehr schwer mit dieser Persönlichkeit, mit diesem Stoff. Breiten Raum im Buch nimmt die sechsjährige intensive Arbeit an der "Shoah"-Dokumentation ein, viele Anekdoten und Randgeschichten machen es hochspannend. "Pflichtlektüre für jeden Deutschen" schrieb die schlaue ZEIT, und das stimmt voll und ganz, ein großartiges Buch, eine Jahrhundertautobiografie. Doch Vorsicht: Das erste Kapitel ist ein Minenfeld, ein Rundumschlag in Sachen Mord, Folter und Sterben. "Ich habe so viele letzte Blicke gesehen" ist der zentrale Satz dieser Einleitung.
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