Cover des Buches Dem Leben entrissen (ISBN: 9783861898344)
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Rezension zu Dem Leben entrissen von Claudia Puhlfürst

Traurig in Pink

von EvyHeart vor 10 Jahren

Kurzmeinung: Gut gedacht, viele Infos, aber unausgeglichen

Rezension

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EvyHeartvor 10 Jahren

Cover


Das Titelbild zeigt einen pinkfarbenen Kapuzenpulli vor schwarzem Hintergrund, davor in weißer, langgezogener Schrift mit leichten Schatten Titel und Autor. Es verweist auf den Pulli eines Mädchens, das umgebracht wurde und dessen Fall im Buch geschildert wird. Das Motiv wurde, wie die Autorin in der Lesung andeutete, gewählt, weil viele Menschen den regionalen Fall verfolgt haben und wissen, was der Pulli bedeutet. Mir sagte er nichts, weil ich negative Nachrichten nur überfliege :-) Ich finde das Motiv aber sehr einprägsam!

Auf der Rückseite befinden sich in Serifenschrift der Klappentext und eine kurze Biografie. Das Schriftbild sowie das Foto sind angenehm, passen aber nicht zum Cover.


Inhalt


Die Autorin schildert vier Kriminalfälle, bei denen die Täter zwischen 2005 und 2010 verurteilt wurden. Sie erzählt das Geschehen teils protokollarisch nach und untermalt ihre Schilderung mit Auszügen aus Gerichtsakten und Medienberichten.

Bei jedem Fall sind andere Schwerpunkte spürbar, was das Lesen relativ unterhaltsam macht.

Der Fall Andreas H. und Frederick B. (Vierfachmord in Eislingen)

Das Buch beginnt mit dem Mord zweier Jugendlicher an der Familie des einen Täters: Am 8./9. April 2009 erschießen die beiden zuerst die Schwestern von Andreas, später die Eltern. Im Mittelpunkt steht dabei neben dem Motiv die Frage, wie das Verhältnis von Frederick und Andreas war und welchen Anteil Frederick am Geschehen hat. Die Vermutungen reichen dabei von einer Dominanz seitens Andreas bis zu einer erotischen Beziehung der beiden. Auch die Frage der Kaltblütigkeit aufgrund der genauen Planungen steht im Raum.

Letztendlich wird Andreas nach Erwachsenenstrafrecht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit vorbehaltener Sicherheitsverwahrung aufgrund der besonderen Schwere der Schuld verurteilt. Frederick erhält nach Jugendstrafrecht ebenfalls die Höchststrafe von 10 Jahren.

Die Autorin beginnt mit der Schilderung der Idylle, die jäh durchbrochen wird. Danach beschreibt sie das Geschehen sehr lebhaft und dokumentiert alle Schritte der Tat und der Ermittlungen. Deutlich ist die Frage herauszuhören, wie zwei Jugendliche (!) die Tat begehen konnten. Im Vergleich zu den anderen Fällen, bei denen mehr Wert auf die Abfolge der Ermittlungen gelegt wird, ist dieser emotionaler, weil besonders die Frage des Motivs nicht endgültig geklärt werden kann.

Ich finde es gut, dass Buch mit diesem 'harmlosen' Fall beginnt - die folgenden Fälle über Kindesmissbrauch trafen mich emotional härter und hätten zu einer negativen Einstellung geführt. So wurde ich langsam an das Thema der harten Verbrechen herangeführt.

Der Fall Mario L. (Ayla aus Zwickau)

In diesem Kapitel wird der Missbrauch und Mord an einem sechsjährigen Mädchen im Jahre 2005 erzählt.

Der Fall beginnt mit einem einprägsamen Erlebnis der Autorin: Sie ist dem Täter während seiner Haftzeit begegnet und beschreibt sein unscheinbares Äußeres. Dadurch stellt der Leser eine Verbindung zwischen sich und der Autorin her - sie hat etwas erlebt, was sie uns erzählt, sodass dieses Erlebnis ehrlicher wirkt.

Danach beschreibt sie den Lebenslauf des Täters mit den Schwerpunkten auf seinen früheren Verbrechen - dem Mord an einer alten Frau in den 80iger Jahren, einem Sexualdelikt aus den 90iger Jahren einschließlich unterlassener Behandlung - und einem ruhigen Leben mit seiner neuen Lebensgefährtin. Sie entwirft das Bild eines Mannes, der trotz seine Fehlertritte normal leben will - ein "labile[s] Gleichgewicht" (S. 72) wie die Autorin feststellt.

Wie bei den anderen Fällen werden das Verbrechen und die Ermittlungen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Häufig werden Pressemitteilungen zitiert.

Der Täter wird zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt, die besondere Schwere der Schuld festgestellt, eine Sicherheitsverwahrung ist nicht möglich.

Am Ende stellt die Autorin die Frage "Kann L. geheilt werden?" (S. 102) und betont, dass sich der Täter einer Therapie verweigert und sein Gefährlichkeit hoch ist.

Die Stimmung in diesem Kapitel ist sehr angespannt, emotional und fragend. Das überträgt sich auf den Leser. Manche Dinge versteht man nicht und kann sie deswegen nicht kontrollieren. Traurig, wenn deshalb Menschen sterben.

Der Fall Daniel V. (Michelle aus Leipzig)

Das Verbrechen, auf das das Cover hinweist und das die Autorin auch auf der Lesung behandelte, ereignete sich im August 2008. Der Täter entführte, missbrauchte und tötete das achtjährige Mädchen.

Ausführlich werden die Ermittlungen geschildert, die bis März 2009 dauern und bei denen der Speicheltest zum Erfolg führt.

Danach beschäftigt sich die Autorin mit dem Täter und dessen Besonderheit: Trisomie 8. Es stellt sich die Frage, inwieweit die geringe Intelligenz das Verbrechen beeinflusst bzw. das Strafmaß geringer ausfallen lässt.

Der Täter wird zu einer Strafe von 9,5 Jahren verurteilt.

Der letzte Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage nach dem Maulwurf in den Reihen der Polizei und dem Leben des Täters in der Haft. Kritisch merkt die Autorin an, dass sich der Täter während seiner Haft mit einem anderen Sexualstraftäter aufhalten konnte. (S. 163)

Der Fall Egidius S. (Würger von Aachen)

Das letzte Verbrechen handelt von einem Serientäter, der von 1983 bis 1990 fünf Frauen vergewaltigte und ermordete. Er wurde 2009 zu lebenslanger Haft verurteilt.

Der Fall wird mit einer Reportage über die Ehefrau des Täters eingeleitet, die auf der Unschuld ihres Mannes beharrt, danach werden die Verbrechen und der Prozess geschildert. Ausführlich beschäftigt sich die Autorin mit der Frage, warum der Täter ein Geständnis abgab, dieses aber wiederrief. Sowohl Ehefrau als auch Verteidigung argumentieren mit masochistischen Neigungen des Täters, was das Gericht abweist.

Am Ende findet sich ein Abriss zur DNA-Analyse, denn der Täter wurde dadurch überführt.

Schreibstil und Atmosphäre


Das Buch ähnelt einer Reportage - und das war für mich schwierig. Ich hatte harte Fakten oder eine ausführliche Nacherzählung erwartet, stattdessen pendelt die Autorin zwischen beidem und versucht immer, die öffentliche Meinung widerzuspiegeln. Die Verbrechen selbst werden lebhaft geschildert, das Opfer wird aus seiner Idylle gerissen. Prägnant dafür sind die Temperaturangaben am Anfang jedes Kapitels bzw. dazwischen. Der Prozess scheint nüchterner, ist aber stellenweise mit Fakten überladen. An einigen Stellen werden die Hintergründe des Täters bzw. der Tat beleuchtet, aber mir fehlt die Tiefe. Dafür ist die Meinung der Autorin aus meiner Sicht zu oft herauszuhören - mir fehlen Argumente. Prägnant sind mir drei Stellen im Gedächtnis geblieben:

"Kann L. geheilt werden?" (S. 102) - Die Autorin erweckt den Eindruck, dass Pädophilie bzw. Persönlichkeitsstörungen geheilt werden können wie ein Schnupfen. Das ist verständlich, weil der Schock über das Verbrechen eine einfache Erklärung verlangt. Das Thema ist sehr komplex und ich hätte mir mehr Fakten gewünscht. Außerdem ist die eigentliche Frage nicht die nach der Heilung, sondern die nach dem Gefährdungspotential, wie auf der folgenden Seite zu lesen ist. Eine Differenzierung wäre gut gewesen.

"Der Anwalt bemerkt gar nicht, was er damit eigentlich ausdrückt: Egidius S. schlüpft in Rollen. Er spielt den Sklaven nur, ist es nicht wirklich" (S. 195) - An dieser Stelle wurde viel Potential verschenkt. Die Autorin reflektiert über die Argumentation der Verteidigung, führt das aber nicht näher aus. Worauf basiert die Behauptung? Genauso wie an einigen anderen Stellen hört man heraus, dass die Autorin gerne mehr gesagt (und vermutlich auch zu sagen) hätte.

"Am 11. April 2010 tötet in der Justizvollzugsanstalt..." (S. 169) - Nachdem die Autorin zuvor von Egidius S.' Ehefrau und ihrem Besuch in der JVA berichtet hat, schildert sie kurz einen Fall, bei dem eine (andere) Frau beim Besuch im Gefängnis von ihrem Mann umgebracht wurde. Die eigentliche Botschaft ist, dass dieser Glauben gefährlich sein kann. Das hätte die Autorin klar sagen können. Stattdessen fügt sie die Stelle unauffällig, aber weisend ein. Für den Leser ist das verwirrend, weil er nicht weiß, von welchem Fall berichtet wird.

Ich finde es sehr schade, dass in diesem Buch vieles anklingt, aber nur wenig ausgesprochen wird. Die Autorin tritt sehr selbstischer und fachkundig auf, ihre Biografie untermauert das. Aber es wird im Buch nicht spürbar. Andererseits besteht die Frage, was der Leser erwartet und was man ihm zumutet. Möglichweise will er seine Meinung bestätigt sehen und unterhalten werden; vielleicht möchte er keine Hintergründe lesen? Außerdem ist es schwierig, öffentlich Stellung zu moralisch schwierigen Themen zu beziehen. Je mehr man sagt, desto angreifbarer macht man sicht.

Ich glaube, das Konzept des Buches ist noch nicht ausgereift.

Struktur und Gestaltung


Das Buch ist vielfach unterteilt. Jeder Fall besteht aus Kapiteln, die manchmal spannend, manchmal nur mit Datumsangaben überschreiben sind. Das Kapitel "Der Prozess", das in jedem Fall vorkommt, wird chronologisch in Prozesstage unterteilt. Außerdem werde Pressemitteilungen etc. eingefügt, die kursiv und teilweise fett formatiert sind.

Die Mischung aus serifen und serifenlosen Schriftarten ist nicht optimal, ich habe aber nie den Überblick verloren und finde das Schriftbild angenehm.

Fazit


Das Cover knallt und trotz des traurigen Hintergrundes mag ich es. Inhaltlich fehlte mir die Tiefe. Ich denke aber, dass es für Leute, die die Verbrechen in der Presse verfolgt haben und eine Zusammenfassung in schönen Worten haben wollen, sehr praktisch ist.
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