„Das Leben war keine Algebra-Aufgabe und kein Algorithmus. Es war eher wie das Komponieren einer Sinfonie, bei der der Schlusssatz wichtig war: ein Schlussfeuerwerk, das nicht wie in der Mathematik die Dinge addierte, sondern die Seele an die Oberfläche brachte und die Zusammenhänge erhellte - so wie das Präludium und die Sonate, das Adagio und das Allegro zusammengehörten. Selbst wenn die Erzählung von Blut und Krieg handelte, brachte der Schlusssatz eine Auflösung, oder zumindest Symmetrie. Honey hatte ihr ganzes Leben der subtilen Kunst der Ästhetik gewidmet, und es wäre eine Sünde, wenn sie ihr Leben in Disharmonie beschließen würde.“ (s.157)
Habt ihr schon mal ein Buch aus der Sicht einer 82-jährigen Protagonistin gelesen? Einer Dame am Ende ihres Lebens. Die zurückkehrt an den Ort ihrer Kindheit, ihren Wurzeln, die ihr Leben hinterfragt, sich ihrer Vergangenheit stellt. Trauer, Reue, Selbsterkenntnis- das Heilen alter Wunden und der Wunsch nach Vergebung…
Allein dies macht das Buch zu etwas ganz Besonderem und Außergewöhnlichem.
Honey ist zwar 82, aber noch äußerst fit, eine edle Dame, die Wert auf ihr Äußeres legt, sich schick zurechtmacht, die nicht auf den Mund gefallen ist und ihre Prinzipien hat - eine starke Frau! Als Tochter eines zwielichtigen Italienischen Clanchefs in New Jersey hatte sie es nicht leicht und hat sich mit 17 Jahren von ihrer Familie distanziert, um ihr eigenes Leben leben zu können. Doch von Honeys sozialem Umfeld ist niemand mehr übrig und nachdem ihre beiden engsten Freundinnen gestorben sind, hält sie Nichts mehr in Los Angeles, und sie kehrt nach New Jersey zurück. Warum genau, kann sie selbst eigentlich garnicht so genau sagen, denn zu ihrer Familie herrscht nachwievor eine große Distanz. Und auch die Bekanntschaften aus ihrer Kindheit haben nicht unbedingt ein gutes Ende genommen und sind ihr nicht gar freundlich gesinnt. Aber die Liebe hat Honey nochmal gefunden und zu ihrer neuen Nachbarin Jocelyn entspinnt sich auch eine vielschichtige Freundschaft.
Doch in Honeys Vergangenheit liegen nicht nur sprichwörtlich Leichen begraben und die Geschichten ihrer Vergangenheit werden in Honey wieder wach - unweigerlich muss sie sich damit auseinandersetzen und erfährt dabei noch so viel mehr über sich selbst.
„Winken und Lächeln - ein echter Auftritt. Denn was war sie anderes als eine Frau, die immer schauspielerte, sich jeder Handbewegung mehr als bewusst war und die immer genau wusste, wie ihre eigene Stimme klang? Vielleicht hatte die Zeit alles zu etwas Groteskem erstarren lassen - einen Charakter erstarren lassen, der schon immer rigide konstruiert war. Das jahrelange Manierlichseinmüssen, die Anstandsregeln, der Personalstil, selbst ihre dornige Liebe - ihre besondere Hausmarke - waren nichts als Ablenkungen, Fassaden, die sie zweifellos von tieferen Wahrheiten entfremdet hatten, zu denen sie einst unbedingt vordringen wollte. Jetzt spielte sie mit der Wahrheit, flirtete mit ihr, selbst da, wo es um Leben und Tod ging.“ (S.162)
Victor Lodato porträtiert uns hier eine so starke und vielschichtige Protagonistin, mit einer ebensolchen starken und vielschichtigen Geschichte, eine Retroperspektive auf das eigene Leben und was man noch anfangen möchte mit der Zeit, die einem noch bleibt oder der Frage, was man noch gutmachen möchte.
Mit Witz und Tragik, Schlagfertigkeit und Ratlosigkeit, Schmerz und Freude - alles liegt so nah beieinander und gehört ebenso zusammen.
Ein ganz starkes literarisches Werk, das ich von ganzem Herzen empfehlen möchte!