Wie geht der richtige Weg in der Erziehung? Claus Koch legt hier ein ungewöhnliches Buch zur Erziehung vor. Es regt zum Nachdenken über die eigene Kindheit, eingefahrene Denkmuster und eine weltoffene und freie Erziehung an. Es ist ein Roman in Form eines Zwiegesprächs zwischen der Protagonistin Zoe und dem Ich-Erzähler.
Das Buch ist im Hardcover herausgegeben und analog zu Rousseaus „Emile“ in fünf Kapitel – da heißt es Bücher – unterteilt, welche die Entwicklungsphasen von der Geburt bis zum Erwachsenenalter beschreiben. Es folgt ein Kapitel mit kurzem Hintergrundwissen zu den Entwicklungsphasen sowie ein Anhang. Es beginnt mit einem Geleitwort von Gerald Hüther.
Claus Koch bringt diese Geschichte in einer VUCA-Welt heraus. Eine Welt, welche sich durch Unbeständigkeit – Volatility, Unsicherheit – Uncertainty, Komplexität – Complexity und Mehrdeutigkeit – Ambiguity auszeichnet. Althergebrachte Denk- und Verhaltensweisen werden zunehmend unbrauchbar bzw. gar hinderlich. Erwachsene und Lehrer fühlen sich verunsichert. Einer, der sich vor über 250 Jahren 1762 in seinem Hauptwerk „Emile oder Über die Erziehung“ mit schwierigen Sozialisationserfahrungen beschäftigt hatte war Jean-Jacques Rousseau. Er markierte den Anfang einer bis heute andauernden Debatte was richtige Erziehung ist. Diese Grundfrage nimmt Koch in Anlehnung an Rousseaus Idee einer „natürlichen Erziehung“ auf. Auch wenn Rousseau, der seine eigenen fünf Kinder direkt nach der Geburt als Findelkinder ausgesetzt hat, selbst streitbar ist, so ist sein Emile über zwei Jahrhunderte Grundlage pädagogischer Ausbildungen. Koch bestätigt alte Grundsätze von Rousseau die auch heute noch modern erscheinen und reflektiert seine Gedanken auch kritisch. Teils tritt Rousseau in der Geschichte weit in den Hintergrund und gibt nur noch einen kleinen Rahmen, um dann wieder mit Zitaten und Gedanken vorzutreten. Zoe ist eine Weiterentwicklung von Emile.
Es geht im Buch um Erziehung zur Weltoffenheit und nicht um „Glück“ oder „Erfolg“. Dies kann nur ermöglicht werden und nicht gemacht, geformt, gelehrt, trainiert oder unterrichtet. Es geht vielmehr um den Weg in die Freiheit – selbstbestimmt, eigenverantwortlich und im Bewusstsein der eigenen Ganzheitlichkeit.
In der Geschichte geht es um Zoe, ein frei erfundenes Mädchen, und deren Begleiter. Zoe bedeutet griechisch Leben. Weltoffenheit bedeutet für sie nach Autonomie zu streben, Neugier, Verständnis und Empfänglichkeit für das Fremde sowie Bereitschaft sich auf das Unvorhergesehene einzulassen. Das Kind ist dabei ein authentisches Wesen. Weltoffenheit ist dabei manchmal auch gefährlich, zerbrechlich und muss jeden Tag neu erkämpft werden.
„Eine Erziehung, die der ursprünglichen Freiheit des Kindes feindlich gegenübertritt, ist zu wenig nutze.“ Genau so ist „eine perfekte Erziehung mit der Garantie, später ein gutes Leben zu haben, nicht möglich.“
Im ersten Kapitel kommt Zoe zur Welt und es handelt das Lebensalter 0-3 Jahre ab. Eine Weltoffenheit entsteht und das Kind sucht nach Bindung, um zunächst zu überleben. Es wird in dem Roman immer wieder poetisch und philosophisch und die Zeilen laden zum Sinnieren und gleichzeitig genießen ein. „Vielleicht liebe ich den Himmel, seine Wolken und die Sterne bis heute, weil ich als Kind so häufig hineingesehen habe. Weil mir die Sicht in die unendliche Entfernung und Weite keine Angst gemacht hat und ich zu den Gesichtern zurückfinden konnte.“ Aber auch zum Nachdenken über „falsche“ Bedingungen: Wenn sich die Gesichter über mich beugten, „sonst verlierst du dich in den Sternen und findest nicht mehr zurück.“ „Alles hängt davon ab, wie es empfangen wird und dass es spürt, angenommen und geliebt zu werden.“ „Es ist schwierig, aus einem einmal verschlossenen Zimmer wieder herauszufinden.“ Ich mag die Erzählungen: „Später einmal habe ich gedacht, dass sich die Vögel, genauso wie kleine Kinder verhalten. Sie schwirren umher, verharren für kurze Zeit, als müssten sie schnell über etwas nachdenken.“
Kinder fangen an weniger zu weinen, wenn sie sprechen können, meinte Rousseau und Koch ergänzt, wenn sie das, was ihnen fehlt, auch in Worten ausdrücken können und dürfen.
Fantastisch ist die wichtigste und nützlichste Regel jeglicher Erziehung nach Rousseau. Sie heißt: Zeit verlieren und nicht gewinnen. Koch ergänzt wieder über Zoe: Sie hat die Zeit nicht verloren, sondern gewonnen. Beide meinen den richtigen Weg und doch klingt Kochs Übersetzung positiver und ressourcenorientierter in Worten.
Im zweiten Kapitel geht es vom 3. Bis zum 6. Lebensjahr und die Verknüpfung des Ichs mit der Welt und der Welt mit dem Ich. Kind sind Kinder und sollen Kinder sein dürfen. Magie, Resonanz, Natur und Freiheit. Wunderschöne Beschreibungen folgen in diesem Kapitel, in dem es um den Mut der Entdeckung der Welt und die Eroberung dieser geht. Wenn sich Kinder irren, sollen wir sie nicht korrigieren, sondern warten bis sie selbst auf das richtige kommen. Fehler dürfen sein und Kinder dürfen sich täuschen. Die Welt ist in der Hosentasche – Steine, Federn, Blätter, Rindenstücke, Samen, Käfer und noch viel mehr. Alles ist lebendig und erzählt Geschichten vom Leben. Sammeln ist ein schöpferischer Akt – die Welt gehört den Kindern. Und sie wollen selbst Teil davon sein und sei es als Blume.
Dann taucht Ben auf – er hatte es nicht so leicht und fällt auf, er eckt an und hat Angst vor Schmerzen. Die Welt hat ihn nicht erwartet. Zoe versteht ihn Teils und spielt mit ihm. Sie ziehen sich in ihren Träumen und im Spiel in immer entferntere Gebiete zurück, hin zu den Rändern der Wälder und Wiesen. Zoe fragt sich wie dieses seltsame Bedürfnis in Kindern entsteht, unbedingt älter werden zu wollen.
Das dritte Kapitel von 6-12 Jahren behandelt das Wissen und den freien Willen. „Der wahrhaft freie Mensch will nur das, was er kann, und tut nur, was ihm passt. Es geht um Beziehungen, Gelichwürdigkeit und Kontrollpädagogen, denen man häufig in Schulen begegnet. Lernen beruht auf Beziehung und Freiheit und nicht auf Autorität. Häufig verschließt sich dem Kind in der Schule die Welt. Spannende Erörterungen folgen. Wie schon Rousseau erkannte „Im Allgemeinen versteht das Kind viel besser in der Seele des Lehrers zu lesen als dieser im Herzen der Kinder.“ Wer kennt sie nicht die Lehrer, die Sadisten, die Verrückten, die Ungerechten und die, die einen respektiert haben.
Es geht um Gehorsam, Streit und die erste Liebe. Zoe und Ben kommen sich näher und müssen sich wieder verlassen, da Ben nicht ins Regelsystem passt.
Von 12 – 18 Jahren behandelt das 4. Kapitel Abgrenzung, Begehren und den Verlust der Kindheit. Koch nutzt wundervolle Zitate: „Aber wenn das Meer bewegt ist, und man will auf der Stelle bleiben, muss man Anker werden.“ Doch was, wenn der Anker nicht fasst und das Schiff weitertreibt? „Wenn du traurig bist, musst du lernen zu fliegen.“ Zoe denkt über den Tod und Religion nach. Sinnfragen des Lebens entstehen und gleichzeitig austesten, kiffen und rummachen mit Jungs. Liebe und Ben und immer wieder sein Wegrennen und Fliehen.
Im 5. und intensivsten sowie ausführlichsten Kapitel begleiten wir Zoe ins Erwachsenwerden – in der Transitzone. Autonomie und Aufbruch. Es geht um Weggehen und Hadern mit sich, den Entscheidungen und der Welt. Wundervolle symbolische Orte webt Koch nun ein: das Meer – unruhig und hastig und dann die Insel – Ruhe und Einsamkeit bis zum Stillstand. Kein Echo, keine Resonanz. Dann kommt der Strand und dann mag Zoe Philosophie studieren. Welch Zufall in dieser philosophischen Geschichte. Und immer mehr denkt sie an Ben. Unwetter kommen und es gibt eine weitere Rückkehr zu Rousseau. Dieser hatte Emile, als er älter wurde doch irgendwie verraten und ihm seine Freiheiten genommen. Hier schlägt Koch eine klare Grenze zu Rousseau ein und geht den Weg der selbstbestimmten Freiheit und Möglichkeiten weiter. Auch ein Erwachsener kann sich in Freiheit selbst verwirklichen. Rousseau verstarb einsam und an sich selbst irre geworden. Dieser seelische Zustand spiegelt sich auch in seinem späten Werk wider. Ben bekommt eine positive Erzählung und somit bleibt der Roman von Anfang bis Ende positiv und eine wundervolle Hommage an Rousseaus „Emile“. Ein Buch was als Klassiker in Erörterung zu „Emile“ gehen sollte und diesen modern emanzipiert wiedergibt. So ähnlich und doch ganz anders! Rousseau wird immer unwichtiger und doch so präsent!
Es folgen kurze Erläuterungen von einzelnen Abschnitten und Hintergrundwissen zu Bindung und Weltoffenheit mit Erkenntnissen aus der Säuglingsforschung, Entwicklungspsychologie, Psychoanalyse und modernen Bindungstheorie. Kurz, verständlich und fachlich versiert.
„Das Leben kann manchmal sehr weich sein, man muss sich nur tief genug hineinfallen lassen.“
Nehmen sie teil an diesem wundervollen Dialog über die Erziehung zwischen Rousseau und Koch, Emile und Zoe, Zoe und dem Ich-Erzähler, Zoe und Ben und ihnen und seien sie ein Teil dessen.
„Das ungewöhnlichste Buch auf dem ganzen Erziehungssektor.“ Gerald Hüther.
5 Weltverbesserer-Ideen für diese Geschichte. „Wie wertvoll gerade die Zwischenräume sind, die unser Leben als Menschen zwischen 0 und 1 ausmachen.“ Erziehen sie zur Weltoffenheit!