Rezension zu "Schlingensiefs »Ausländer raus!« Bitte liebt Österreich" von Matthias Lilienthal
Ein LovelyBooks-NutzerDa haben sie ihn alle umarmt. Da kamen Gregor Gysi und Blixa Bargeld, da kam Peter Sellars und schrie: "We need this all over the world". Natürlich ist nichts passiert. Die FPÖ war immer noch da, die Kunst hat auch hier nicht gewonnen. Wieso eigentlich?
Nach dem Wiener Container trat Christoph Schlingensief vor die Kamera Alexander Kluges und sagte zwei Sätze. Der eine lautete: "Ich werde ab jetzt umarmt. Alle lieben mich. Das halte ich aber auch nicht aus". Und der zweite war: "Es war das erste Kunstwerk, bei dem ich nicht mehr anwesend sein musste."
Beide Sätze haben einen wunderschönen Nachhall. Der zweite Satz ist so undenkbar wie einmalig in Schlingensiefs Werk. Ein Werk, das sich vor allem dadurch auszeichneet, dass der Erschaffer, Erlöser und künstlerische Heilsbringer immer vor Ort war, redete und schwieg, schrie und heulte. Der Wiener Container brauchte Schlingensief irgendwann nicht mehr. Das Bild machte sich selbstständig, die Leute eskalierten auch ohne Megaphon und menschlichen Verstärker.
Der erste Satz ergibt sich aus einem Mißverständnis, dem die Rezensenten und Kulturliebhaber aufgesessen sind. Was auf den ersten Blick wie eine eindeutige Attacke gegen die österreichische Regierung aussieht und damit von links bis ultralinks für alle und jeden vereinnahmbar ist, entpuppt sich auf den zweiten Blick als viel komplexer und zweideutiger. Schlingensiefs an Big Brother angelehnte Abschiebeaktion hatte nicht nur zum Ziel, den "Herrschenden die Torte ins Gesicht zu schleudern", wie Elfriede Jelinek sagte. Denn das wäre dann doch zu einfach gewesen, vor allem für Schlingensief, denn dazu bedarf es keiner Kunst, ein Konditor reicht dafür vollkommen aus. Um das Spannungsfeld dieser Aktion angemessen zu beschreiben, genügt vielleicht der Moment, den Schlingensief selbst als größtes Glück beschrieben hat. "Irgendwann kamen die Montagsdemonstranten, die Linken, die immer gegen die FPÖ protestierten und wollten die Ausländer befreien". Spätestens ab dem Zeitpunkt geriet alles in Zweifel. Die Demonstranten stürmten den Wiener Container, machten sich dran, Türen aufzureissen und Dächer abzumontieren, als Schlingensief ihnen erzählte, dass die vermeintlichen Schauspieler echt sind (oder auch nicht) und sich gerade vornehmlich erschrecken angesichts einer Bande langhaariger Gutmenschen, die jetzt auch nicht mehr so genau wussten, was eigentlich los ist.
Der Wiener Container hat sie alle in seinen Bann gezogen, die FPÖ wie die Kultur, die Linken wie die Rechten, die Kunst wie das Leben. Und er wurde an die Schnittstellen gesetzt, Sicherheit nirgends, das Argument von heute ist die Lüge von morgen. Wer den Wiener Container als künstlerisch-politischen Aktionismus verklärt, der hat nicht verstanden, dass Schlingensief nicht mit satellitengesteuerten Raketen schoß, sondern wild mit Schrotflinten herumballerte und so alle Spiegelungen und Verzerrungen in etliche Richtungen laufen ließ. Christoph Schlingensief war kein Aktivist, das macht die Sache zu einfach. Er war immer Interaktivist. Bis zu seinem Ende und von Anfang an.