Cover des Buches Gefallene Blüten (ISBN: 9783867542128)
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Rezension zu Gefallene Blüten von Clementine Skorpil

Ein Mädchen mit großen Füßen kommt überall hin

von J-B-Wind vor 11 Jahren

Kurzmeinung: Außergewöhnliche Krimilektüre auf sprachlich und inhaltlich hohem Niveau mit vielen historisch fundierten Details! Top!

Rezension

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J-B-Windvor 11 Jahren

>Für jedes Paar gebundener Füße ein Eimer voller Tränen.<

(altes chinesisches Sprichwort)

>Gefallene Blüten< spielt im Jahre 1926 in der chinesischen >Stadt über dem Meer< Shanghai, die damals als schicker Hot-Spot mit besonderem Flair galt, in der sich jede Menge ausländischer Künstler und Intellektuelle tummelten. Sie wurde aber auch von der Unterwelt beherrscht, den so genannten Triaden, die man sich ähnlich vorzustellen hat, wie Chicagos Mafia-Banden in den 20er- und 30er- Jahren. Mehrere Gangs, vor allem die führende Green Gang, mit dem gefürchteten Anführer Du Yuesheng, kurz >Großohr Du< genannt, machten Shanghai mit florierendem Opiumhandel, Prostitution und illegalem Glückspiel unsicher.

Ich war im Zuge meines Berufs viele Male in Shanghai und kann sagen, dass die Stadt grundsätzlich eine gewisse Faszination auf mich ausübt. Als absolute Asien-Liebhaberin war es für mich ein Muss diesen Roman zu lesen.

Die Autorin Clementine Skorpil steht schon seit mehreren Jahren für anspruchsvolle Geschichten abseits des Mainstreams. Sie hat bereits mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht, die bereits mit Preisen ausgezeichnet wurden, sowie einen Roman. Da sie Sinologie und Geschichte studiert hat, siedelt sie ihre Romane gerne in China an und bereichert sie mit historischen Fakten. Clementine Skorpil macht gerne Menschen sichtbar, die am Rand der Gesellschaft stehen oder standen.

Auch in >Gefallene Blüten< steht eine ungewöhnliche Heldin im Mittelpunkt des Geschehens: Die 60-jährige Chinesin Ai Ping, die ihre Enkeltochter Pflaumenblüte sucht. Die alte Dame hat gebundene Füße, so genannte Lotusfüße, die im alten China als Inbegriff der Erotik galten. Clementine Skorpil schafft es eindrucksvoll zu beschreiben, wie leidvoll jeder einzelne Schritt für Ai Ping ist. Das Binden der Füße galt zu dieser Zeit eigentlich schon als abgeschafft, wurde aber im Verborgenen noch viele Jahre weitergeführt. Erst Mao Zedong, der sich im Buch von seiner lyrischen Seite zeigt, schaffte es 1949 nach der Gründung der Volksrepublik China diese grausame Tradition abzuschaffen. 1988 schloss die letzte Lotus-Schuhfabrik ihre Pforten.

Beim Binden wurden die Füße und Zehengelenke mehrmals gebrochen und die vier kleinen Zehen mit straffen Bandagen unter den Fuß gebunden. Im Idealfall sollte der Fuß unter den Bandagen zierlich und klein erscheinen und an eine Mondsichel erinnern. Drei chinesische >Cun< – rund zehn Zentimeter – war das Idealmaß, das nach der, bis zu 15 Jahre dauernden Tortur, erreicht werden sollte. Mit dem brutalen Bandagieren wurde im Alter von fünf bis acht Jahren begonnen. (Nur in ländlichen Gebieten wurde oft auf das Binden verzichtet, da man die Mädchen als Arbeitskräfte auf dem Feld benötigte.)
Normal gehen, geschweige denn weite Strecken zurücklegen, konnten die Frauen mit diesen Lotus- oder Lilienfüßen aber nicht mehr. Gemäß den Moralvorstellungen der Zeit war es für wohlhabende verheiratete Frauen unschicklich, sich außerhalb des Hauses aufzuhalten. Gebundene Füße hatten aber auch den Vorteil die Frauen leichter disziplinieren zu können und ihre Rolle auf den häuslichen Bereich zu konzentrieren. Durch das Unvermögen sich ausreichend zu bewegen, nahmen diese Frauen an Gewicht zu, was ein weiteres Schönheitideal zu dieser Zeit war.

Doch Ai Ping ist anders. Die Heldin in Clementine Skorpils Roman denkt nicht daran still zu sitzen. Sie ist schon als Kind eine Kämpferin und läuft trotz Schmerzen den ganzen Tag durch das Dorf bis das Blut aus den Bandagen tropft. Jegliche Maßregelungen ihrer Mutter prallen an ihr ab, auch lässt sie sich nicht mästen, bleibt daher dünn. Sie ist eine kleine Rebellin. Auch im hohen Alter geht sie ihren eigenen Weg, zudem ist sie gebildet, des Lesens und Schreibens mächtig.

Ihr zur Seite stellt die Autorin Lou Mang, einen 25-jährigen Studenten, der Marx und Engels verehrt und im Kommunismus die Chance sieht, China von den Imperialmächten und der Kriminalität zu befreien. Er ist somit das krasse Gegenteil von Ai Ping.

Der Roman wird auch vor allem durch diese zwei sehr starken Figuren getragen. Die meisten Kapitel werden aus der Sicht Ai Pings oder Lou Mangs erzählt.

Am Beginn des Romans wird der Komprador Liu Er ermordet aufgefunden.

Die Suche der starrköpfigen Großmutter nach Pflaumenblüte führt zu den Kurtisanenhäusern ins Reich der >wilden Hennen<. Ist Pflaumenblüte wirklich eine von ihnen? Und hat sie etwas mit dem Mord an Liu Er zu tun? Da Ai Ping schlecht bei Fuß ist, beauftragt sie Lou Mang mit den Nachforschungen und schon bald befinden sich beide mitten im Sumpf des Verbrechens, der Korruption und der Gewalt. Bald geraten beide in große Gefahr...

Clementine Skorpil ist hier ein außergewöhnlicher Roman gelungen. Sie schafft es, fundierte historische Persönlichkeiten und Ereignisse mit einem fiktiven und mitreißenden Krimiplot zu verstricken. Ihre Figuren sind liebevoll gezeichnet, agieren stets authentisch und glaubhaft. Zudem taucht man, dank ihrer perfekten Beschreibungen, regelrecht in die Schauplätze ein und verschmilzt beim Lesen geradezu mit der exotischen Atmosphäre. Man meint den Schmutz aus den Gassen auf den Fußsohlen kleben zu spüren; man hustet im Opiumdunst mit den Protagonisten um die Wette. Man vermeint den schwülstigen Geruch in den Kurtisanenhäusern zu vernehmen und die kommunistischen Parolen zu hören. >Gefallene Blüten< ist somit ein Erlebnis für alle Sinne.

Die Dialoge sind an die Zeit und den Ort angepasst. Die Autorin hat zudem einige chinesische Namen eingespart, indem sie die Kurtisanen mit >eingedeutschten< Namen versieht. Trotzdem ist dies kein Roman, den man nebenbei oder beim Einschlafen lesen kann. Er erfordert vollste Aufmerksamkeit, besonders am Anfang dauert es einige Zeit bis man sich gemerkt hat, wer hinter welchem Namen steckt. Um das zu Erleichtern findet sich am Anfang des Romans eine Personenbeschreibung. Die Kapitelüberschriften sind mit chinesischen Schriftzeichen versehen. Die Kapitel selbst angenehm kurz, die Perspektivewechsel moderat, nur kapitelweise.

Perfekt recherchiert, sprachlich auf hohem Niveau und mit Humor führt uns die Autorin in eine andere Welt. Dieser Krimi hebt sich wohltuend aus der Masse ab. Er ist nicht nur spannend, mit jeder Menge actionreicher Szenen, sondern auch lehrreich. Man erfährt jede Menge faszinierender Details über Land und Leute jener Zeit. Dafür sorgt auch das ausführliche Nachwort der Autorin.

Kriminalromane aus dem Ariadne Verlag gelten schon lange als exquisite Leckerbissen, für alle, die das Besondere lieben. Else Laudan hat schon manches Ausnahme-Talent entdeckt und gefördert. Ich möchte hier noch Punkte für das ausgezeichnete Lektorat geben, was sicher auch damit zusammenhängt, dass die Autorin selbst als Lektorin arbeitet. Ich bin schon sehr gespannt, womit uns Verlag und Autorin als Nächstes überraschen und freue mich schon auf das nächste Buch der Autorin

.

Fazit:

>Gefallene Blüten< ist ein Krimierlebnis für anspruchsvolle LeserInnen, die sich nicht berieseln lassen wollen, sondern beim Lesen gefordert werden möchten, gerne in fremde Kulturen und Zeiten eintauchen und interessiert an geschichtlichen Details sind. Mit dem Kauf dieses Buchs erhalten Sie nicht nur einen besonderen Kriminalroman, mit einer starken und außergewöhnlichen Protagonistin, der in einer Zeit des Auf- und Umbruchs spielt, sondern auch ein Stück Geschichte. Packende Unterhaltung auf inhaltlich hohem Niveau!

Für Fans von historisch fundierten Romanen ist >Gefallene Blüten< ein Genuss. An diesem Roman werden, trotz weiblicher Heldin, auch Männer gefallen finden. Versprochen!

Prädikat: Sehr lesenswert!



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