Rezension zu "Nichts ist verloren" von Cloé Mehdi
»Schließ bloß nie jemand in dein Herz. Früher oder später lassen sie dich alle im Stich.«
Der Leitsatz, der Klappentext. Auf der Beerdigung seines Vaters bekommt der elfjährige Mattia diesen Satz von der Mutter gesagt. Der Vater hatte sich in der Psychiatrie erhängt. Die Mutter gibt Mattia in Pflege, weil ihr alles zu viel wird. Der große Bruder, ein Arzt, nimmt ihn nicht auf und die große Schwester packt ihren Rucksack, verschwindet in die Welt, wohin auch immer. Zé nimmt Mattia auf, denn der hatte dem Vater in der Psychiatrie versprochen, dass er sich um seinen Sohn kümmern werde. Zé, zu er Zeit ist gerade 20, ist es letztlich egal, ob der Junge die Schule schwänzt, er schimpft nur mit ihm, weil er sonst Ärger mit dem Jugendamt bekommen würde. Mattia lebt bei ihm, er bekommt zu essen, Frühstücksflocken, Fastfood oder eben Frühstücksflocken, wenn nichts anderes da ist. Und er wird auch zur Schule gefahren, wenn Zé von der Nachtschicht nach Hause kommt, wird abgeholt, irgendwann, manchmal wartet er über eine Stunde lang in der Kälte. Denn Zé kümmert sich hauptsächlich um Gabrielle, auch eine Psychiatriebekanntschaft. Er liebt sie unendlich, kann nicht verstehen, dass sie einfach Schluss machen will mit ihrem Leben – einfach so, ohne einen triftigen Grund. Aber trotz allem geben die beiden dem Jungen Zuneigung, Halt und Geborgenheit. Es ist ein düsteres Umfeld in den Banlieures von Paris, in dem Mattia aufwächst.
»Wie sehr ich mich auch bemühe, ich kapiere einfach nicht, wie die ticken: Zé, die Erwachsenen, die Welt…Mein Interesse an diesem Universum nimmt von Jahr zu Jahr ab, scheint mir. Wenn das in diesem Tempo weitergeht, dann bin ich in zwei Jahren nur noch eine leere Hülle.«
Im Stadtteil sind überall Graffiti auf die Wände gesprüht, neuerdings kommen immer mehr: »Gerechtigkeit für Saïd«. Kurz bevor Mattias Vater in die Psychiatrie eingeliefert wurde, hatte ein Polizist den fünfzehnjährigen Saïd bei einer Ausweiskontrolle erschossen. Es war Mord – sagt man – aber das Gericht hat ihn freigesprochen. Mattia war damals noch klein. Mit den neuen Graffitis taucht auch plötzlich Mattias Schwester auf, die sich seit Jahren nicht gemeldet hatte. Dafür ist die Mutter seit Wochen verschwunden, die er manchmal besuchte. Komische Typen sprechen Mattia vor der Schule an, folgen Zé´s Auto, als er ihn von der Schule abholt.
»Manchmal, wenn ich die anderen Kinder so sehe, dann frage ich mich, ob sie auch schon mal Blut von einer Autorückbank wischen mussten oder nachts verschreckt unter einem Krankenhausbett Wache halten. (…), und dabei das Oberarschloch da oben im Himmel, oder wer auch immer da ist, angefleht haben, allen, die krank sind oder bald sterben werden, einen winzigen Aufschub zu gewähren, nur ein klitzekleines bisschen mehr Zeit zu geben?«
Der elfjährige Mattia erzählt uns seine Geschichte, schaut altklug in die Erwachsenenwelt hinein, denn bei allem, was er täglich sieht, täglich mit dem Tod konfrontiert wird, ist er lange den Kinderschuhen entwachsen. Ein Roman, der einen beim Lesen oft innehalten lässt, tief durchatmen, der einen Sog entwickelt, nicht loslässt. Was ist damals geschehen? Und warum kommt wieder alles hoch, was hat das Ganze mit seiner Familie zu tun? Mattia will es wissen – der Leser auch. Zé, heißt Zéphyr, er war einst ein talentierter Schüler, entstammt einer reichen, bürgerlichen Familie, der Vater ist Staatsanwalt, die Mutter Richterin. Er liest Lamartine, Baudelaire und Camus, gibt sie auch Mattia zu lesen. Warum arbeitet er als Wachmann? Was ist geschehen?
»Schon komisch, ich bin elf und habe längst kapiert, was er mit seinen vierundzwanzig Jahren immer noch nicht kapiert hat: Es ändert sich nie etwas, alles wiederholt sich. Nichts geht verloren, nichts entsteht neu, alles wandelt sich, aber immer auf die gleiche Weise und immer nur für kurze Zeit.«
Hier geht es um Gewalt, Rassendiskriminierung, Chancenlosigkeit, Ohnmacht, Gentrifizierung der Quartiere und ein zweites wichtiges Thema: Schuld und Sühne. Was macht Gewalt aus einem Menschen? Dies ist ein großartiger Gesellschaftsroman und eine Noir-Roman, wie er kaum besser sein kann - ein beeindruckendes Werk, das Cloé Mehdi vierundzwanzig Jahren vorlegte. Zé ist ein Arsch, sagt Mattia immer wieder, wenn er sich über ihn ärgert. Denn er kümmert sich nicht wirklich um den Jungen. Trotzdem liebt Mattia Zé und Gabrielle, denn er weiß, sie würden ihn nie im Stich lassen. Vielleicht Gabrielle, die versucht sich ja dauernd umzubringen. Es gibt eine wundervolle Szene: Das Jugendamt kommt zu Besuch, will prüfen, ob sie Zé die Vormundschaft über Mattia entziehen: Man trifft auf eine aufgeräumte, geputzte Wohnung, einen reichlich gedeckten Tisch mit Tischdecke, es wird zum Frühstück eingeladen. Zé hilft Mattia bei den Hausaufgaben. So hatte er sich eine Familie im Traum vorgestellt. Nichts ist verloren – immer wieder blinzelt die Sonne ins Quartier und eine Portion Humor ist unterlegt, wie soll es auch anders sein, aus der Perspektive eines Kindes. Eine Sprache, die das Herz des Lesers berührt, schnörkellos, mit tiefen Einsichten, Protagonisten feingezeichnet, lebensecht.
Der Roman wurde mit Preisen überschüttet – zu Recht!. Cloé Mehdi wurde im Frühjahr 1992 geboren. Während des Studiums begann sie zu schreiben, um sich die Zeit zu vertreiben. Ihr erster Roman, »Monstres en cavale«, wurde mit dem Prix de Beaune 2014 ausgezeichnet. Für »RIEN NE SE PERD« (Nichts ist verloren) erhielt sie den PRIX FRANCE BLEU POLAR POCHE 2018, den TROPHY 813 DU MEILLEUR ROMAN FRANCOPHONE 2017, den PRIX MILLE ET UNE FEUILLES NOIRES 2017, den PRIX BLUES & POLAR 2017, den PRIX MYSTÈRE DE LA CRITIQUE 2017, den PRIX ÉTUDIANT DU POLAR 2016 und den PRIX DORA SUAREZ 2017.