Den Einstieg in die Reihe „ungewöhnlicher Erzählungen“ bildet die Geschichte „Ein ruhiger Tag“, deren Protagonist Stichling zusammen mit seinem „Partner“ einer zwar nicht besonders einträglichen, aber auskömmlichen Geschäftstätigkeit nachgeht. Das Außergewöhnliche dieser Erzählung ist die Perspektive: Stichling sieht und erlebt die Welt von unten – buchstäblich und im übertragenen Sinn. Auf die falsche Fährte gelockt von Stichlings betriebswirtschaftlichem Vokabular wird dem Leser erst nach und nach die wahre, grauenhafte Situation des „Geschäftsmannes“ deutlich. Die implizierte Sozialkritik manifestiert sich vor allem in der feinen Ironie der Darstellung von Stichlings Lebens- und Sterbensumständen. Gelungen!
„Jenseits des Existenzminimums“ stellt uns einen Eigenbrötler vor, dem die Gabe der Geselligkeit , des unbeschwerten Umgangs mit seinen Mitmenschen nicht in die Wiege gelegt worden ist und der schon früh zu ahnen beginnt, dass er „mit dem Existieren womöglich in eine Unternehmung einbezogen worden ist, die schwer zu überblicken ist und nicht gut ausgehen kann.“ Er kommt zu der Überzeugung, dass „das ganze Prinzip des Lebens … ihm eine Existenz aufzwingt, in die er freiwillig nie eingetreten wäre.“ Er stellt sich diesem Schicksal aber nicht mit dem existenzialistischen „Trotzdem“, sondern mit einer „durchtriebenen“, akribisch geplanten „Unternehmung“.
Die Erzählung lässt sich als Psychogramm auffassen, vermittelt durch die Bekenntnisse eines gestörten Sonderlings mit gespaltener Persönlichkeit. Sie regt aber auch an zur allgemeinen philosophischen Reflexion über die Standortbestimmung des Einzelnen in der Gesellschaft, zur Sinnsuche menschlicher Existenz. Lesenswert!
Auch in der Kurzgeschichte „Belinda in spe“ werden wieder etwas absonderliche Figuren dargestellt: Eine psychisch gestörte Frau, die mit einem leeren Kinderwagen herumspaziert sowie ein Protagonist mit einer ungewöhnlichen – sexuellen? - Obsession.
Ist der pensionierte Ingenieur Krämer, der gerne mit dem Bus herumfährt, um Frauen zu beobachten, ein höflicher älterer Herr, mit dem nur manchmal die Fantasie durchgeht, ein eher harmloser Spanner oder vielleicht ein Vergewaltiger? Eine erstaunliche Wendung erfolgt am Ende der Geschichte, als sich der Protagonist als sehr unzuverlässiger (was die „wahrheitsgemäße“ Information des Lesers betrifft) Viewpoint-Charakter erweist. Das verwirrende Spiel mit der Erzählperspektive führt zu einem überraschenden Ende.
„Fliegenpizza“: Der Angestellte Walter, ein menschenscheuer, grimmiger Sonderling, führt ein ereignisarmes, zurückgezogenes Leben, bis er sich eines Tages gezwungen sieht, eine Kur anzutreten. Aufregend für ihn – und spannend für den Leser – wird es, als ausgerechnet nach einem peinlichen Zwischenfall im Speisesaal, der ihn vollends zum Außenseiter und Gespött des Kurhauses macht, eine attraktive Dame seine Gesellschaft sucht. Sie ist überaus interessiert an seiner Persönlichkeit, und während sie kaum von seiner Seite weicht, weiß sie sich den Annäherungsversuchen seinerseits immer wieder zu entziehen. Wer ist diese Frau, die sich gut mit Walters Heimatort auskennt, ihn ausfragt, aber nichts von sich selbst preisgibt? Welche Motive leiten sie? Eine andere Dame, die das seltsame Paar beobachtet, wird jedenfalls misstrauisch.
Am Ende führen die Folgen von Walters absonderlichem, ja ekelhaftem Suchtverhalten, und das gefährliche Spiel der Unbekannten mit seinen Gefühlen und traumatischen Kindheitserinnerungen zu einem dramatischen Höhepunkt.
Abschließend möchte ich die kritische Frage stellen, ob die ausführlichen Schilderungen der Gefühle, Gedanken und des Verhaltens Walters während der Kur (bevor sich die Ereignisse überschlagen) unbedingt funktional für die Entwicklung der Handlung ist oder ob die Auseinandersetzung mit einem Kurbetrieb und seinen ganz eigenen, zum Teil komischen Gesetzmäßigkeiten nicht vielleicht Stoff für eine eigene Geschichte geboten hätte. Wie die Antwort auch ausfällt, die Originalität und Fantasie des Autors, die immer wieder unerwartete Ereignisse und überraschende Wendungen in der Geschichte hervorbringen, garantieren auf jeden Fall Lesevergnügen.
Die m. E. außergewöhnlichste Geschichte ist „Johannes“, eine Erzählung, der der Protagonist abhanden gekommen ist. Johannes hat sich „angemaßt“, durch „aggressive Abwesenheit“ seinen Kollegen das „süße Gut“ einer „stabilisierenden Beziehung“ zu entziehen. Außer von einer für seine Mitmenschen offensichtlich fast unverzichtbaren Eigenschaft erfährt der Leser eigentlich nichts von ihm. Auch die übrigen Figuren bleiben nichts als eine anonyme Masse („sie“, „einige“, „mancher“, „alle“). Die Zeit der Handlung bleibt ebenso unklar wie der Ort (eine Stadt in der Natur). Die Handlung ließe sich mit dem Ausdruck „Suche nach Johannes“ zusammenfassen.
Worum geht es in einer Geschichte, in der der einzige Charakter, der einen Namen trägt, verschwunden ist? Nun, Johannes hat die für die anderen überaus bedeutende Eigenschaft, winzig zu sein. „Sie“ haben „Johannes' Wachstum unterbunden, um selbst an Größe zu gewinnen.“ (S. 340)
Die Geschichte kann als philosophische oder sozialpsychologische Studie gelesen werden, die untersucht, welche Folgen es hat, wenn Menschen die Möglichkeit genommen wird, „nach unten zu treten“. Das Ende lässt einen mit Beklemmung zurück, ist aber angesichts gesellschaftlicher und historischer Erfahrungen leider nur plausibel.
Der außergewöhnliche völlige Verzicht auf das Herausarbeiten individueller Charaktere verleiht den geschilderten Vorgängen die Qualität einer allgemeingültigen Gesetzlichkeit nach Art einer Parabel.
Ob der sehr ausgeprägte Nominalstil eher eine Schwäche ist, die die Erzählung etwas schwer lesbar macht, oder ein für den Autor typisches Stilmittel, das die ästhetische Qualität seiner Prosa unterstreicht, mag jeder Leser selbst entscheiden.
Jedenfalls ein interessanter, origineller Lesestoff!