Rezension zu "Meine Mutter, ihre Liebhaber und mein einsames Herz" von Cristina Karrer
Der etwas sperrige Titel erinnerte mich an "Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend" von Andreas Altmann.
Quelle: Verlag / vlb
Der etwas sperrige Titel erinnerte mich an "Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend" von Andreas Altmann.
Cristina Karrer ist in der Schweiz eine seit langem bekannte und gefragte erfolgreiche Journalistin. In ihrer hier vorliegenden bewegenden Autobiographie erzählt sie von der schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter und deren Erkrankung an Demenz.
„Geht es um meine Kindheit, sehe ich nicht viel“, hält Cristina Karrer in ihrem lesenswerten Buch fest. Während die aus einem katholischen Milieu stammende Mutter zum It-Girl der Sechziger avanciert, wächst die Tochter u.a. bei Verwandten und im Kinderheim auf. Später wird aus dem enfant terrible eine Starjournalistin – und Mutterhasserin. Bis die Mutter an Demenz erkrankt.
Als Cristina Karrer nach langer Zeit der Nichtbeachtung und Verachtung der eigenen Mutter von deren Alzheimer Krankheit erfährt, holt sie die Mutter zu sich nach Südafrika. Und sie beginnt, sich neu mit der Geschichte ihrer Kindheit und ihrer Familie zu beschäftigen und erlebt dabei mit einigem Erstaunen, sich erstmals als Tochter ihrer Mutter fühlen zu können.
„Wahrscheinlich ist meine Mutter schon immer für mich da gewesen. Doch gespürt habe ich das in all den Jahrzehnten nur in flüchtigen Momenten. Ein halbes Jahrhundert musste vergehen, bis sie es von Herzen sagen und ich es von Herzen glauben konnte.“#
In dem Maß, in dem die Mutter krankheitsbedingt ihre Geschichte vergisst, gewinnt Cristina ihre eigene Vergangenheit, ihre Mutter, für sich zurück. Ein Stoff, aus dem sich ein intensives Gespräch über Bindung und Krankheit, Entfremdung und Sehnsucht entwickeln lässt.
Ein beeindruckendes, auch literarisch anspruchsvolles Buch.
Ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch ist Christina auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit. Sie wächst in unterschiedlichen Familien auf: bei der Großmutter, bei Vater und Stiefmutter, im Heim, endlich auch bei ihrer geschiedenen Mutter. Diese ist nicht in der Lage, ihrem Kind Nähe und Wärme zu vermitteln; sie geht ganz in ihrem eigenen Leben auf. Trotz der Kühle ihrer Mutter versucht Christina eine gute Beziehung zu ihr herzustellen - was ihr ironischerweise am besten gelingt, als die Mutter nach ihrer Alzheimer-Diagnose selbst wieder zum Kind wird.
Die Journalistin und Reporterin Karrer berichtet in zwei Zeitebenen aus ihrem Leben. Aktuell stehen die Pflege und Sorge um ihre Mutter im Vordergrund. Doch immer wieder erzählt sie Erlebnisse aus der Vergangenheit und erinnert sich mit Wehmut, ohne nachtragend zu sein.
Dieses Buch ist die sensible Geschichte einer Tochter, die als Kind den Beistand ihrer Mutter schmerzlich vermisst, als Erwachsene jedoch Verständnis für sie entwickelt und einen Zugang zu der mittlerweile dementen Frau findet. Mein Fazit: Christina Karrer hat eine sehr ehrliche Erzählung verfasst, ohne Bitterkeit und stets optimistisch.