Désirée Nick stellt sich mir im Rahmen einer Lesung ihres Buches als „alte weisse Frau“ vor. Mit einer gewissen Neugier habe ich die Einladung zu derselben gern angenommen, nicht ahnend, was mir im anderen Falle entgangen wäre.
Ich war wohl der einzige im gut ausverkauften Saal des Münchner Künstlerhauses am Lenbachplatz, der die Protagonistin noch nicht kannte. Was wohl einerseits an meiner genrespezifischen Ignoranz, andererseits aber auch daran liegen mag, dass ich als alter weißer Mann eher dem Antitypus entspreche.
So kam es, dass ich im ersten Drittel der Veranstaltung in einer rezeptiv-analytischen Haltung (Schaun wer mal, was geboten wird) erst kopfschüttelnd verwundert dreinschaute. Die Autorin entpuppte sich als brillante Entertainerin, die mit Sprache zu jonglieren versteht. Sie schafft nach hinführenden Worten der Veranstaltungsmoderation mit flotten Sprüchen zunächst thematisch und atmosphärisch einen Rahmen, der den Erwartungen des Publikums entspricht. Erntet dafür schon zu Beginn mehrfach Applaus. Dann folgen wohldosierte Passagen aus ihrem Buch, die sie mit großer Routine vorträgt. Eine Lesung dient zweifellos den Marketingzwecken des Verlages und der Autorin. So fehlt es nicht an stapelweisen Angeboten des neuen Werkes, das man, da in der dritten Phase der Veranstaltung das Signieren durch die Autorin folgen soll, am besten schon zu Beginn kauft. Ich habe den Eindruck, dass sie nicht liest, sondern vielmehr wie bei einem Bühnenstück rezitiert. Die Präsentation des Werkes durch die Urheberin ist ohne Zweifel eindrücklicher als der Lesestoff. Désirée trägt ihr literarisches Werk augenzwinkernd mit Ironie und Schalk im Nacken vor. Mimik und Gestik sind köstlich. Sie ist schon als Persönlichkeit ein Gesamtkunstwerk.
Wenn wir laut Oxford Languages Ironie als „verdeckten Spott, mit dem jemand etwas dadurch zu treffen sucht“ verstehen, „dass er es unter dem augenfälligen Schein der eigenen Billigung lächerlich macht“, so ist das voll gelungen. Désirée Nick brandmarkt ohne wirklich zu verletzen. Mehr und mehr reizt sie auch meine Lachmuskeln.
Wichtiger noch als die Darstellungsform und deren Wirkung ist jedoch die Botschaft.
Frau Nick übernimmt die Rolle einer Sprecherin und Vorreiterin einer Bewegung der „Frauen über 40, die planen, die nächsten 60 Jahre zu den besten ihres Lebens zu machen.“
Sie schafft es, mit Humor, die darin angelegte Spaltung und Konfrontation mit der postulierten Übermacht der alten weißen Männer zu verhindern. Die Lesung schafft tiefe Einblicke in das Gesamtwerk der Künstlerin. Das gekaufte Buch mag zur Festigung und Vertiefung dienen.
Wirklich zu einem umfassenden Erlebnis wird die sich im zweiten Drittel der Veranstaltung anschließende Fragerunde des Publikums. Hier erweist sich Désirée als außerordentlich geschickte und schlagfertige Kommunikatorin. Sie öffnet ohne Scham und Vorbehalt die gesamte, bunte Palette ihres reichen Lebens und Wirkens. Die trickreiche Illusionistin, die mit ihrem Genre Comedy als Form der komischen Unterhaltung ihr Publikum bis hin in die privaten Bereiche ihres Alltags zum Lachen bringt, gewinnt schließlich mein Herz durch ihre Authentizität. Als alte weiße und nicht zuletzt weise Frau überzeugt Désirée Nick als Vorbild für die zahllosen Frauen jeden Alters, die Unterstützung bei ihrer Selbstfindung durch die selbstbewusste Präsentation ihrer Geschlechterrolle dringend benötigen. Mir als altem weißen Mann hat ihre ungewöhnliche Buchpräsentation die Augen geöffnet für die überall lauernde Altersdiskriminierung der Frauen und mithin ganz nebenbei auch der Männer. Auch hierfür lieferte die Veranstaltung treffliche Beispiele. So ist ihr Buch ein Studienobjekt für beides!
Meine volle Empfehlung!