Rezension zu "Russia and the Origins of the First World War (Making of the Twentieth Century)" von D.C.B. Lieven
Andreas_OberenderZwischen 1973 und 1991 brachte der britische Verlag Macmillan eine Reihe von Büchern über die Vorgeschichte und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges heraus. Die Bücher waren den sechs europäischen Großmächten gewidmet: Deutschland (Volker Berghahn, 1973), Großbritannien (Zara Steiner, 1977), Frankreich (John Keiger, 1983), Russland (Dominic Lieven, 1983), Italien (Richard Bosworth, 1983) und Österreich-Ungarn (Samuel Williamson, 1991). Einige dieser Bände wurden längere Zeit nach ihrer Erstveröffentlichung überarbeitet und neu aufgelegt (Berghahn, 1993; Steiner, 2003). Alle sechs Bücher verdienen heute noch eine aufmerksame Lektüre, auch wenn sie inzwischen nicht mehr den aktuellen Forschungsstand wiederspiegeln. Besondere Beachtung verdient das Buch von Dominic Lieven. Als einziger der sechs Autoren hat sich Lieven sein Thema, die Rolle Russlands beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges, ein zweites Mal vorgenommen und ein vollkommen neues Buch geschrieben, "Towards the Flame", das jetzt im Mai 2015 erschienen ist. Wer dieses neue Buch liest, der sollte vorher den älteren Band gelesen haben. Nur so lässt sich feststellen, ob Lieven heute Russlands Rolle im Vorfeld des Ersten Weltkrieges und während der Juli-Krise anders bewertet als vor über 30 Jahren.
Dominic Lieven ist hierzulande kein Unbekannter. Einige seiner Werke wurden ins Deutsche übersetzt, etwa das Buch über Russlands Kampf gegen Napoleon. Unter den britischen Russlandhistorikern ist Lieven zweifellos der beste Kenner der politischen Geschichte des späten Zarenreiches. Sein Buch "Russia and the Origins of the First World War" verrät eine bewundernswert tiefe Kenntnis dieser Materie. Lieven war erst 31 Jahre alt, als seine schlanke und handliche Studie 1983 erschien. Auf nur 150 Seiten gelang ihm eine hervorragende Analyse der russischen Außenpolitik am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Lieven beschränkte sich nicht darauf, nur die seinerzeit vorliegende Sekundärliteratur auszuwerten und zusammenzufassen. Er führte auch umfangreiche Archivrecherchen durch, und das sogar in einigen sowjetischen Archiven. Deshalb ist das Buch auch heute noch so wertvoll. Spätere Forschungen mögen neue Quellen erschlossen und das Bild von Russlands Anteil am Ausbruch des Ersten Weltkrieges modifiziert haben. Für jede ernsthafte Beschäftigung mit der russischen Außenpolitik unmittelbar vor 1914 ist Lievens Buch aber noch immer die unverzichtbare Ausgangsbasis.
Wie Lieven im ersten Kapitel zeigt, war es oberstes Ziel des Zaren und seiner Regierung, den Großmachtstatus zu erhalten und zu verteidigen, den Russland seit Peter I. unter großen Mühen und Kosten erlangt hatte. Nichts fürchtete die Autokratie mehr als die machtpolitische Deklassierung, den Ausschluss aus dem Kreis der europäischen Großmächte. Allein schon aus Gründen der Selbsterhaltung konnte sich die Autokratie eine weitere schmachvolle Niederlage wie die gegen Japan (1905) nicht leisten. Die strukturellen Ausgangsbedingungen für die Wahrung des Großmachtstatus waren indessen alles andere als optimal: Trotz beachtlicher Modernisierungserfolge blieb Russlands Wirtschaftskraft hinter der anderer Mächte zurück. Der Unterhalt der Streitkräfte und der Ausbau der kriegswichtigen Infrastruktur waren eine erdrückende Belastung für den Staat. Nach der Niederlage gegen Japan und den Wirren der Revolution von 1905 gelangen Wiederaufbau der Flotte und Ausbau des Eisenbahnnetzes nur dank umfangreicher französischer Kredite. Eine energische, zupackende, vielleicht sogar risikoreiche Außenpolitik wollten der Zar und seine Regierung nach 1905 nicht wagen, weil sie fürchteten, ein neuer Krieg könne zu einer noch schlimmeren Revolution führen. Das Zarenreich war keine militarisierte Gesellschaft wie Deutschland oder Frankreich. Das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Militär war distanziert und angespannt. Liberale bürgerliche Kreise sahen in den Streitkräften einen Fremdkörper innerhalb der Gesellschaft, ein Unterdrückungsinstrument der Autokratie. Nationalismus, Patriotismus, Panslawismus, alle diese Ideologien wurden zu keinem Zeitpunkt von breiten Bevölkerungsschichten rezipiert, am allerwenigsten von den Bauern, aus deren Reihen sich die Mehrheit der Soldaten rekrutierte. Die Loyalität der vielen nichtrussischen Nationalitäten des Vielvölkerreiches war fraglich. Die Regierung war sich all dieser Faktoren und Umstände bewusst.
Es gab keinen breiten gesellschaftlichen Konsens, welchen außenpolitischen Kurs Russland steuern sollte. Deshalb agierten der Zar und seine Diplomaten nach 1905 eher vorsichtig. Außenpolitische Abenteuer wollten und konnten sie aus zwei Gründen nicht riskieren: Die Stabilisierung des Reiches nach der Krise von 1904 bis 1906 erforderte eine lange Friedensphase, und es fehlte an der Zuversicht, dass die Bevölkerung eine riskante Außenpolitik mittragen und nötigenfalls willig in einen neuen Krieg ziehen würde. Folge dieser zeitweiligen Schwäche war Russlands Einknicken in der Bosnischen Annexionskrise (1908/09). Der Zar, seine Minister, Diplomaten und Generäle waren jedoch entschlossen, eine zweite derartige Blamage auf keinen Fall hinzunehmen. Ohne die Demütigung von 1908/09 ist Russlands Politik in der Juli-Krise 1914 nicht zu verstehen. Im zweiten Kapitel untersucht Lieven die russische Außenpolitik in den letzten Jahren vor Ausbruch des Weltkrieges. Trotz mancher Irritationen blieb das Verhältnis zum Deutschen Reich relativ gut. Russlands Beziehungen zu Österreich-Ungarn, dem Rivalen auf dem Balkan, verschlechterten sich jedoch nach der Annexionskrise rapide. Russland vollzog einen Kurswechsel, weg von der traditionellen Kooperation mit dem Habsburgerreich auf dem Balkan, hin zu einer Zusammenarbeit mit den jungen Balkanstaaten, allen voran Serbien, die als Bollwerk gegen eine weitere Expansion Österreich-Ungarns auf dem Balkan in Stellung gebracht werden sollten. Dass Russland die Balkanstaaten zu einer forschen Außenpolitik ermunterte, erwies sich als schwerer Fehler: Die Balkankriege schwächten das angeschlagene Osmanische Reich weiter und erhöhten die Spannungen im Südosten Europas.
Was Deutschland angeht, so hatte das Zarenreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwei Optionen. Die eine - Verständigung mit dem Deutschen Reich, eventuell sogar ein Bündnis - hatte in der politisch-diplomatischen Elite nur wenige Befürworter und wurde nie ernsthaft in Betracht gezogen. Die deutsche Außenpolitik unter Wilhelm II. wurde in Petersburg als expansionistisch und potentiell bedrohlich wahrgenommen. Russische Diplomaten waren der Gleichgewichtsidee verpflichtet, wie Lieven zeigt. Deutschlands spektakulärer Aufstieg seit 1871 hatte aus Sicht des russischen Außenministeriums zu einer Störung des Gleichgewichts geführt. Um Deutschland "einzudämmen" und "abzuschrecken" - Lieven verwendet die klassischen Begriffe des Kalten Krieges, "containment" und "deterrence" -, setzte die russische Diplomatie auf die zweite Option, auf die Vertiefung des seit 1894 bestehenden Bündnisses mit Frankreich und einen kolonialpolitischen Interessenausgleich mit Großbritannien. Die von Außenminister Sergej Sasonow gewünschte formelle Dreierallianz kam jedoch aufgrund britischer Weigerung nicht zustande. Russlands Außenpolitik vor 1914 war ambivalent und nicht frei von Widersprüchen: Einerseits verstand sich das Zarenreich als Verteidiger des Status quo in Europa. Ein etwaiger deutscher Griff nach der Hegemonie auf dem Kontinent sollte verhindert werden. Andererseits trug Russland mit seiner Balkanpolitik dazu bei, dass ausgerechnet in Europas krisen- und konfliktreichster Region der Status quo in Frage gestellt und schließlich verändert wurde. Das wirkte sich unmittelbar auf die Bewertung der russischen Außenpolitik in Wien und Berlin aus.
In den hochinteressanten Kapiteln 3 und 4 geht Lieven der Frage nach, welche Akteure an der Formulierung der Außenpolitik beteiligt waren und von welchen Ideen und Zielen diese Akteure sich leiten ließen. Nacheinander behandelt Lieven den Zaren, prominente Personen aus dem höfischen Umfeld des Monarchen, Außenministerium und diplomatisches Spitzenpersonal, die Führungen von Armee und Flotte. Nach der Revolution von 1905 und dem Übergang zum Konstitutionalismus brachten sich auch Parteien, Presse und die gebildete Öffentlichkeit in außenpolitische Debatten ein. Keine der Parteien und politischen Strömungen, seien es Liberale oder Konservative, von der radikalen Linken ganz zu schweigen, entwickelte jedoch ein kohärentes außenpolitisches Konzept. Die Außenpolitik verblieb weiter in der exklusiven Zuständigkeit des Zaren und seiner Diplomaten. Dieser kleine Zirkel war es schließlich auch, der Russland im Sommer 1914 in den Krieg führte (Kap. 5). Die beiden Minister für Heer und Marine, Suchomlinow und Grigorowitsch, ermunterten Außenminister Sasonow zu einer harten Haltung gegenüber Österreich-Ungarn. Gefangen in der Illusion, ein großer europäischer Krieg werde kurz sein und mit einem Sieg der Tripel-Entente enden, behaupteten die beiden Minister leichtsinnigerweise, die Streitkräfte seien kriegsbereit. Für die Armee galt das nur zum Teil, für die mitten im Wiederaufbau befindliche Flotte gar nicht. Im Ministerrat herrschte Einigkeit, dass Russland Serbien nicht im Stich lassen dürfe, wollte es nicht den Zusammenbruch seiner Balkanpolitik und eine schwere diplomatische Niederlage riskieren. Von diesem Argument ließ sich auch Nikolaus II. überzeugen. Aus russischer Sicht diente der Krieg dem Ziel, den im Zuge der Balkankriege entstandenen Status quo in Südosteuropa zu verteidigen. Aggressive und expansive Absichten verfolgte das Zarenreich nicht, so Lieven.
Lievens Fazit wird keinen Leser überraschen. Es spiegelt den Konsens der Forschung wieder, der in den 1970er und 1980er Jahren herrschte: "Die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch lag in Berlin" (S. 151). Russland musste gezwungenermaßen in den Krieg ziehen, weil die Politik der Abschreckung gegenüber den Zweibundmächten im Sommer 1914 versagte. Um die frühe russische Mobilmachung macht Lieven nicht viel Aufhebens: Sie war aus seiner Sicht eine Drohgebärde, ein Instrument der Abschreckung. Nur diese Sprache würden Wien und Berlin verstehen, so war die Petersburger Führung überzeugt. Auf der Ebene des europäischen Staatensystems diagnostiziert Lieven ein Übermaß an Potential zur Kriegführung und eine Unterentwicklung an Mitteln zur Friedenssicherung. Anders als neuere Autoren - man denke an Sean McMeekin - sieht Lieven das Zarenreich nicht in der Rolle des Aggressors, der die Balkankrise hinterlistig nutzte, um einen Krieg vom Zaun zu brechen und neue Territorien zu erobern. Glaubt man Lieven, so führten Russlands Regierende ihr Land in den Krieg, weil sie keine andere Wahl sahen. Auf weitere Expansion sei Russland gar nicht angewiesen gewesen, so Lieven; riesige Territorien hätten noch der Erschließung und Nutzung geharrt, vor allem jenseits des Urals. Sean McMeekin sieht dies anders ("The Russian Origins of the First World War", 2011). Es versteht sich von selbst, dass Lievens Buch nicht isoliert gelesen werden darf, sondern gegen neuere Forschungsbeiträge abgewogen werden muss. Vor allem aber sollte es in Verbindung mit Lievens neuem Buch gelesen werden.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Juni 2015 bei Amazon gepostet)