Wie viele Vielleser habe auch ich ab und an das GefĂŒhl, manchem Buch nicht gerecht zu werden. Sei es, weil es mich nicht einlĂ€sst in seine Welt, von Beginn an oder erst nach ein paar Seiten, oder weil es mich so sehr gefangen nimmt, dass ich dem GefĂŒhl erliege, es unbedingt besprechen zu wollen, aber den Punkt nicht finden kann, der anderen vermittelt, was ich beim Lesen dachte und fĂŒhlte. Durch die Vielleserei - ich bin eine rasche, aber grĂŒndliche Leserin - schĂ€rfen sich die Lesenerven, die Sinne werden anspruchsvoll und quĂ€le ich mich bei der LektĂŒre, was ich durchaus auch manchmal mit Genuss tue, weitet sich mein Lesehorizont immer mehr. Der Nebeneffekt, der sich nach der LektĂŒre von Texten, die mich ĂŒberwĂ€ltigt haben, einstellt, ist meist eine gewisse Leseunlust gepaart mit einer noch höhergelegten Latte, was meinen Anspruch angeht. Trotzdem versuche ich immer wieder, jedem Buch, das ich aufschlage, ohne Voreingenommenheit entgegenzutreten. In letzter Zeit fĂ€llt mir das Einlassen auf den Text bei SachbĂŒchern bei Weitem leichter, als bei Belletristik. Und dennoch gibt es immer wieder diese BĂŒcher, die mich (fast) sprachlos zurĂŒcklassen, weil sie mir eine in ihren GrundzĂŒgen nicht gĂ€nzlich unbekannte Geschichte auf ganz neue, frische und unkonventionelle Weise erzĂ€hlen.
Solche BĂŒcher haben es hĂ€ufig schwer, einen Verlag zu finden.
So auch Dan Daltons Johnny Ruin, der im englischsprachigen Original 2018 erscheinen wird, ermöglicht durch einen Zusammenschluss von Kulturschaffenden unterschiedlichster Couleur, die eine Plattform geschaffen haben, die es Autoren ermöglicht, ihre Texte ĂŒber ein Crowdfunding Projekt zu veröffentlichen. Grandios ĂŒbersetzt von Marion Hertle ist dieser besondere Roman schon jetzt auf Deutsch bei Tempo im Hoffmann & Campe Verlag erhĂ€ltlich und er MUSS gelesen werden. Von ganz vielen Menschen, die sich auf eine Geschichte einlassen können, die auf den ersten Blick keiner vorgegebenen Form oder Struktur folgt, die die Leser*innen hineinzerrt in die Hirngespinste der Vorstellungskraft des Protagonisten und am Ende die eigenen SchlĂŒsse einfordert.
Aber vielleicht setzen wir einfach alles auf Anfang und ihr folgt mir dorthin, wo auch der Roman beginnt: In der KĂŒche einer Londoner Wohnung, auf deren Boden ein junger Mann rĂŒcklings liegt. WĂ€hrend Johnny Ă€uĂerlich regungslos verharrt, lĂ€sst er uns Leser*innen durch seine Erinnerungen wandern. Ăhnlich wie Harry Potter im Abschlussband der nach ihm benannten Reihe oder Dante Aligheris alter ego in der Göttlichen Komödie befindet sich Johnny in einem Schwebezustand. Harry trifft Dumbledore in Kings Cross, Aligheri trifft Vergil und Johnny Ruin trifft den coolsten Typen, den er kennt: Jon Bon Jovi. Wohlgemerkt den Jon Bon Jovi der 1994er Jahre, dessen Musik Johnny immer begleitete und der wohl auch deshalb als geistiger FĂŒhrer durch die pulsierende Welt der Erinnerungen prĂ€destiniert ist. Oder weil er, JBJ, selbst einmal einen Motorradtrip durch die WĂŒste unternahm, der ihn zurĂŒckkommen lieĂ aus einer Depression ...
Doch geht es hier "nur" um Erinnerungen und sind diese tatsĂ€chlich realistisch? Oder was passiert in diesen Hirngespinsten der Vorstellungskraft? Sind sie weniger real, weil sie sich bisher offensichtlich im Gehirn eines Menschen abspielen? Albus Dumbledore hatte auf diese Frage eine ganz klare Antwort: "NatĂŒrlich passiert es in deinem Kopf, aber warum um alles in der Welt sollte das bedeuten, dass es nicht wirklich ist?"
Johnny begibt sich also auf eine Reise durch seine Erinnerungen - immer auf der Suche nach dem Ziel und einem SchlĂŒssel, der helfen möge, dieses zu erreichen. Wie GedankensprĂŒnge, wechseln die Gehirn- und damit GefĂŒhlsbereiche, die er gemeinsam mit JBJ durchwandert, nicht chronologisch, sondern auch bezĂŒglich seines Lebensalters springend. Einen starken Bezugspunkt dabei aber gibt es zumindest in der jĂŒngeren Vergangenheit: Johnnys Obsession seine Ex-Freundin betreffend. Der Eindruck einer starken körperlichen AbhĂ€ngigkeit lĂ€sst sich da nicht abschĂŒtteln. Und aufgrund dieser schlieĂt auch sie sich als Reisebegleiterin durch die Höhen und Tiefen dieses Lebens an. GewissermaĂen als Korrektiv steuert sie neue Blickwinkel auf ihre gemeinsame Beziehung bei.
Sucht man als Leser*in selbst das Ziel oder den SchlĂŒssel dieser Geschichte, mag die LektĂŒre schwierig bis zeitweise redundant erscheinen. MĂ€andert man jedoch einfach mit dem Gedankenstrom mit und lĂ€sst sich treiben, wird der neuronale Roadtrip zu einer ĂŒberraschenden und tiefgehenden Reise. Johnny kommt einem nah, manchem vielleicht zu nah, zu dicht, zu sehr lĂ€sst er sich in seine Seele, in deren unsympathischen, besessenen Winkel blicken.
"Du rĂŒckst den Leuten auf die Pelle, sagt er. Die ganze Zeit. Und dann wunderst Du Dich, warum sie abhauen. Das ist echt anstrengend, Champ. Er beugt sich zu mir, flĂŒstert. Und nur unter uns: Dass ich ohne Dich weitermache, hat null Sinn, was die Geschichte angeht. Ganz schlechte Idee. Jetzt lĂ€chelt er. Butch is'n ScheiĂ ohne Sundance."
Und so wie Butch Cassidy und Sundance Kid machen sich auch JBJ und Johnny auf, immer dem Unvermeidlichen entgegen, von dem sie nicht wissen, was es sein wird. So ist das eben im Leben, wir glauben nicht zu wissen, was uns erwartet, doch eigentlich gestalten wir RealitĂ€t ganz aktiv mit. SelbsterfĂŒllende Prophezeiungen sind nichts weniger als die aus unserem Hirn geborene RealitĂ€t. Erinnerungen mögen uns davon abhalten, neue Wege zu beschreiten, aus Angst, in Fallen zu tappen oder am Ende wieder auf alten Trampelpfaden landen. Doch auch Erinnerungen entspringen unseren neuronalen Konzepten und sind hĂ€ufig nicht mehr oder weniger real, als unsere Vorstellungen.
"Man kann sich nicht an alles erinnern, man wÀhlt ein paar Augenblicke aus und hÀlt sich an ihnen fest. Erinnerungen sind nur Postkarten, die man an sich selbst schickt."
Deshalb sind sie wankelmĂŒtig, können tröstend aber auch schmerzhaft sein, doch sollten sie uns nie davon abhalten, unseren Weg weiterzugehen.
Leben ist Konsequenz - dieser Satz zieht sich wie ein roter Faden durch Dan Daltons Roman. Ein Roman, dessen Sog und Wucht, die er auf mich ausĂŒbte, ich nicht verstehen konnte - bis ich merkte, dass ich nicht verstehen muss, sondern fĂŒhlen. Es wird sicherlich Leser*innen geben, die dieses Buch nicht an sich herankommen lassen (können) und ja, ich kann das verstehen, kann nachvollziehen, dass man die behandelten Themen nicht interessant findet. Auch die scheinbare Formlosigkeit oder Unordnung des Textes könnte Kritik hervorrufen, jedoch zu Unrecht, denn im Grunde genommen ist gerade ein Text, der eine nicht nur stringente Handlung verfolgt, nicht einfach und es ist eine Kunst, die losen FĂ€den zusammenzuhalten. Das hat Dalton auf jeden Fall groĂartig bewerkstelligt.
Johnny Ruin ist ein unkonventioneller Roman, der seine Leser*innen auf einen wilden Ritt durch die Höhen und Tiefen des Menschseins einlĂ€dt. Dorthin, wo gebrochene Herzen nie richtig heilen, weil immer dieselbe Stelle gebrochen und damit fadenscheinig geworden, immer wieder blutet. Dorthin, wo Narben im Hirn entstehen, Depressionen könnte man sie nennen. Die mĂ€nnliche Sicht war dabei fĂŒr mich ĂŒberraschend und erhellend. Sie hat mir TĂŒren geöffnet, die ich vorher nicht einmal sah. Und ich denke, viele junge MĂ€nner, denen es geht wie Johnny, die eine Art Doppelleben fĂŒhren, weil die Gesellschaft - auch ihre eigene - ihnen eine falsch verstandene, weil toxische, Sicht auf das, was wir MĂ€nnlichkeit nennen, aufzwingt, in der RĂŒckschlĂ€ge und Niederlagen nicht vorgesehen sind, wĂ€ren froh, wenn sie diese TĂŒren behutsam öffnen könnten.
Wem das alles zu dĂŒster wirkt, dem sei gesagt, so ist es nicht. Johnny Ruin hat alles, was ein guter Roman braucht, auch Witz. Nicht herzzerreiĂend komisch, noch rasend traurig, wie der RĂŒckentext des Buches es verspricht, aber fĂŒhlend-einnehmend - passendere Worte finde ich dafĂŒr nicht, auĂer: Lest dieses Buch, bildet euch selbst eine Meinung und lasst euch um Himmels Willen nicht von JBJ abschrecken. Letztendlich erwartet euch ein beglĂŒckendes Leseerlebnis.
Dan Dalton
Lebenslauf von Dan Dalton
Quelle: Verlag / vlb
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Johnny Ruin
Johnny Ruin
Neue Rezensionen zu Dan Dalton
In âJohnny Ruinâ variiert, modernisiert und lyncht (@david) Dan Dalton Jack Kerouacs âUnterwegsâ. Sein Neal Cassady heiĂt Jon Bon Jovi, könnte aber auch Sundance Kid heiĂen. Im Dalton Universum könnte alles ganz anders sein. Der ErzĂ€hler entspannt unter kalifornischen MammutbĂ€umen, die er noch nie gesehen hat. Er gibt dem Roman seinen Schelmennamen. Der von ihm vielleicht um die Ecke gebrachte Jugendfreund Paul kehrt als blinder Passagier zurĂŒck an Bord und reist mit Johnny, Jon Bon Jovi, dem Hund Fisher und der Geliebten Sophia von der amerikanischen WestkĂŒste zum Atlantik vielleicht nur in einer Phantasiephantasie. Die Fiktionalisierung der Fiktion soll der Fiktion RealitĂ€tskraft geben. Manchmal gelingt das.
Paul hatte nie einen guten Musikgeschmack. Er verlor seine Unschuld zu Senza Una Donna, auf dem RĂŒcksitz des Ford Transit seines Vaters.
âKomm fĂŒr mich, Babyâ - Sophia âist nicht wirklich hierâ, also da in der Gegenwart des ErzĂ€hlers. Trotzdem gibt Johnny ihr nach, wenn sie von ihm verlangt, fĂŒr ihn zu kommen. Dalton erzĂ€hlt wie aus einer nörgelnden Seitentasche der Wirklichkeit. Der ungesicherte Gegenstand seiner Rede ist eine Reise. Von der Innenwelterkundung bis zum bloĂen Rauschzug wird jeder Trip im Trip mit Beatnik Metaphorik ziseliert. Dalton transportiert ein Genre, dessen Manifeste an mechanischen Schreibmaschinen entstanden, in die SMS-Ăra. Dazwischen liegen fĂŒnfzig Jahre, die dem Beat nicht gut bekommen sind.
âDie Fiktion ist die einzige Chance fĂŒr den Loser, Geschichte zu schreiben.â
Beim Sex sind Ellbogen im Weg. âAsche fĂ€llt wie Schnee vom Himmel.â In Iowa tanzen Blitze am Horizont zu einem Zombie Groove. âGraue Gestalten (die Unrechten) bewegen sich ungesehen.â Die StraĂe âist ĂŒbersĂ€t mit verlassenen Autosâ. Das sind natĂŒrlich Zitate, montiert zu einer Collage voller ZeitsprĂŒnge. Johnny geht mit Jon Bon Jovi sein Leben durch. Seit dem Erscheinen von âCross Roadâ 1994, lĂ€sst sich Johnny von Bon Jovi hochstimmen. Der Musiker erleidet am Steuer, auf dem Beifahrersitz oder am StraĂenrand das Schicksal alternder Stars. Jeden Tag könnte ihn jemand oder etwas von der BĂŒhne des Lebens nehmen. Was dann?
Johnny darf man das nicht fragen. Er verlÀsst sich auf eine halluzinogene psychotrope Substanz, um sich in Form zu halten. Er weià vielleicht noch gar nicht, dass Scheitern dem Leben Sinn gibt. Wer besser scheitert (Beckett), muss noch mal antreten. Fisher weià es.
âEr hĂ€lt alles fĂŒr ein Spiel.â
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