Rezension zu "Die jüdischen Evangelien: Die Geschichte des jüdischen Christus (Judentum - Christentum - Islam)" von Daniel Boyarin
Die jüdischen Evangelien ist ein einladendes und brillantes Werk, welches in einer bestechenden vergleichenden Analyse herausarbeitet, dass die Idee des Neuen Testament u.a. eines menschgewordenen Sohnes keine christliche Erfindung sei. Boyarin behauptet und zeigt in einer detailreichen Kleinstarbeit auf, dass die Ideen des neuen Testaments zu Jesus vorchristlich und jüdisch waren. Somit ist das Neue Testament aus seiner Sicht eines jüdischen Ursprungs.
Daniel Boyarin aus Berkeley USA, ist einer der wichtigsten rabbinischen Gelehrten der Gegenwart – Jack Miles im Vorwort – und amerikanischer als auch jüdischer Staatsbürger. Er lehrte u.a. an den Eliteuniversitäten Yale, Harvard und Berkely. 2016/17 hatte der Humboldt-Forschungspreis-Träger zudem eine Gastprofessur am Katholischen Seminar der Freien Universität Berlin inne. Er veröffentlichte das englische Original 2012 unter dem Titel: „The Jewish Gospel, The Story of the Jewish Christ“ (New York, 2012). Er
Der Übersetzer Armin Wolf hat nicht nur sorgfältig den Text übertragen, sondern diesen um Begriffsklärungen und Fußnotenzusätze ergänzt bzw. korrigiert. Boyarin spricht in einem persönlichen Kontakt mit dem Übersetzer dann auch „The German will be the definitive edition, not the English.“ Die Übersetzung ist gemeinsames Projekt der Evangelischen Akademie zu Berlin und der Gemeinde der Berliner Hugenotten.
Boyarin hat das Buch als „Jesusbuch“ angelegt und es hat neben der Analyse als Ziel die Ausgrenzung zwischen Christentum und Judentum zu hinterfragen, um Akzeptanz zwischen beiden zu schaffen und der historischen späteren Entfremdung entgegen zu setzen. Dies soll durch die Rekonstruktion der gemeinsamen Ursprünge in neuen bzw. ursprünglichen Erzählungen – Narrativen gelingen.
Das Buch ist übersichtlich, kurzweilig und durch seine klare Struktur leicht zu lesen. Damit ist es sowohl für die akademischen als auch interessierten Kreise sehr wertvoll.
Boyarin ist ein Kenner der Texte des Alten Testaments, der Schriften des Judentums aus hellenistisch-römischer Zeit sowie der Bücher Henoch und den 4. Esra, genauso wie einige erst kürzlich entdeckte Textfragmente aus Qumran. Davon lebt dieses Buch.
Der Autor erläutert anhand des Menschensohn-Begriffs – hier der Wandlung vom Gottessohn zum Menschensohn bzw. der Erhebung vom Menschensohn zum Gottessohn durch vergleichende Analyse die Vorchristlichkeit und Jüdischkeit des Begriffs. Er nutzt dabei Texte aus dem 1. Henoch sowie dem 4. Esra und vergleicht diese auf detaillierte Weise. Mit dem Sohn Gottes ist hier ein Mensch in der Tradition der davidischen Könige und nicht der Gesalbte (griech. Christus bzw. hebr. Messias) nach der Tradition von 1. Samuel 10,1 und Psalm 2,2 gemeint. Es geht also um eine politische Bedeutung und somit ist keine Gotteslästerung im christlichen Sinne gemeint.
Boyarin analysiert zudem, dass es Quellenzitate des jüdischen Schrifttums weit vor Jesus gibt, die diese Gestalt eines Messias (der Gesalbte à analog Christus) vorhergesagt haben, in welcher der göttliche Menschensohn und der menschliche Davidssohn zusammenfließen. In seiner Analyse zeigt er die später antijüdischen Abgrenzungen als Zeugnisse innerjüdischer Konflikte auf, die es sinnvoll erscheinen lassen nicht nur vom jüdischen Christus sondern eben von den jüdischen Evangelien zu sprechen.
Spannend sind die Erläuterungen der Kategorien Rein-Unrein und die Abstammung nicht von den biblischen Speisegeboten sondern anderen Situationen wie z. B. Berührung der Leichen, Umgang mit Körperflüssigkeiten u.a..
Auch die Passionsgeschichte Jesu wird treffend als messianische Tradition des Judentums analysiert. Die Bezugnahme auf die Gottesknechtsgestalt und dessen stellvertretendes Leiden in Jesaja 53 können laut Boyarin ganz klar auf den jüdischen Messias bezogen werden.
Boyarin hat hier ein Werk geschaffen, welches nicht nur aus vergleichender und historischer religionswissenschaftlicher Perspektive sehr wertvoll ist - religionsgeschichtliche Abstammungsverhältnisse können sachgemäßer gedacht werden – sondern auch im innertheologischen Dialog zwischen Judentum und Christentum wertvolle Beiträge leisten kann – durch eine Aufweichung der Polemik und Verschweigung eigener semantischer und organisatorischer Traditionen der beiden Schulen rabbinisches Judentum und paulinisches Christentum.
In diesem Fall scheint es sogar sinnvoller aufgrund der Ergänzungen und Verweise die Übersetzung anstatt des Originals zu lesen.