Die Frage, was „This is America“ bedeutet, stellt ich mir schon sehr lange, und darum hat mich Daniel C. Schmidts Buch sofort angesprochen. Schmidt mischt darin Analyse und Reportagen und gerade, wenn er Menschen trifft, wird das Buch besonders gut. Dann schafft er eindringliche Miniaturen, die mich sehr berührt haben: Veteranen, die im Wrestling emotionalen Halt finden, die Verkäuferin im Waffengeschäft, die Trump zwar gewählt hat, sich von ihm aber auch nicht viel erwartet; die Sozialarbeiterin, die mit die Auswüchse der Opiumkrise tagtäglich erlebt.
Meine erste Erinnerung als Kind an die USA ist nicht etwa McDonalds. Es sind Eispackungen, Rechtecke, die direkt aus der Pappe gerissen wurden, und Hershey’s Zartbitterschokolade. Beides kannte ich von den Truppenübungsplätzen, die Norden und Süden der Region eingrenzten. Und die Barschecks, die von meiner Tante kamen, die 1947 ausgewandert war. Und dann noch die Serien aus dem Fernsehen. Die USA kam mir als Kind immer wie ein alter Bekannter vor. Gut, mit einigen Eigenheiten, wie dieser, die auch Schmidt beschreibt:
„So eingerichtet, wie es nur ein amerikanischer Innenarchitekt hinbekommen kann, der noch nie im alten Europa war – teuer, aber ohne jegliches Stilempfinden, als ob man das Wort Prunk neuerdings n-e-w m-o-n-e-y buchstabieren würde.“
Erst nach und nach verstand ich, dass ich dieses Land jenseits des großen Teiches nur zu kennen glaube, das war noch als Teenager in den 90ern. Die Trump-Wahl habe ich live verfolgt. Seitdem betrachte ich dieses Land wie einen Verkehrsunfall, unfähig, wegzusehen, und voller Angst, wie sich diese Präsidentschaft auf die Welt auswirkt. Schmidt zeichnet in „This is America“ den Weg ab genau jenem Punkt nach, von der Wahl 2016 bis Anfang 2020.
„2020 ist noch jung, es kann so viel passieren. Eine ernsthafte Prognose zu diesem Zeitpunkt: eher sinnlos. Aber es gibt ein paar einfache Fragen, die man stellen kann. Wie geht es den Menschen unter Trump? Was bewegt die Amerikaner wirklich und wie hat sich das Land unter diesem außergewöhnlichsten aller Präsidenten verändert?“
Er schafft es tatsächlich keine Prognosen abzugeben, stattdessen fängt er Stimmungen ein und stellt Überlegungen an. So wirkt selbst die Stelle über eine mögliche Kandidatur von Elisabeth Warren nicht überholt, denn obwohl Schmidt ihr gute Chancen ausrechnete, hat er ein mögliches Scheitern bereits mitgedacht. Und Hut ab, noch nie zuvor habe ich so ein gutes Porträt von ihr gelesen. Schmidts Analysen und Überlegungen decken sich weitgehend mit dem, was ich mir selbst aus unzähligen Nachrichten, Tweets und Kommentaren mühsam destillieren musste. Besonders gefiel mir Schmidts Uneitelkeit, die immer wieder durchscheint:
„Im Kern vermessen ist natürlich die Idee, zu denken, das Rüstzeug des Reporters führe automatisch zu einer höheren Erkenntnis: Stift und Block in der Tasche – die Geschichten liegen auf der Straße und die Wahrheit auch, bitte aufsammeln. Reichen Kugelschreiber, Notizbuch und ein paar Fragen, um der Realität zu begegnen und ihr Storys abzuluchsen, die etwas aussagten?“
Persönlich habe ich es irgendwann nicht mehr ertragen, die Trump-Präsidentschaft intensiv zu verfolgen. Schmidts Buch war in vieler Hinsicht eine Erinnerung, auch an den Punkt, an dem ich Abstand von den Trump-Nachrichten nehmen musste. Es waren die Anhörungen von Brett Kavanaugh und die Frage, ob er zum obersten Bundesrichter ernannt werden solle, obwohl es Vorwürfe über sexuelle Übergriffe gab. Schmidts Zusammenfassung der Ereignisse fand ich packend, obwohl ich doch den Ausgang kannte.
„Eine Vielzahl an konservativen Experten in den Medien hatte sich zudem, wie der Jura-Professor Jedediah Purdy von der Columbia University später in einem Aufsatz bemerkte, weniger darauf versteift, dass Kavanaugh die Wahrheit sagen könnte, sondern dass, falls er lügen sollte, sein Verhalten entschuldbar war. Die seltsame Morallektion, die sich daraus ableiten ließ, war relativ simpel, wie der New Yorker in einem anderen Text zusammenfasste: Für weiße und wohlhabende Teenager ist es irgendwie in Ordnung, sexuelle Nötigung zu begehen, solange sie später einen guten Job haben, eine Familie gründen und häuslich werden.“
Immer wieder gibt es die Meinung, dass Frauen Vergewaltigungsvorwürfe erfinden würden, um das Leben von Männern zu zerstören. Der Fall Kavanaugh zeigt ganz deutlich, dass hier keine Leben zerstört werden. Nur das Leben der Frau, denn Christine Blasey Ford musste umziehen und war massiven Anfeindungen ausgesetzt. Kavanaugh wurde zum Bundesrichter ernannt. Diese Absurdität kommt auch bei Schmidt sehr gut heraus.
Schmidts Buch ist spannend und ausgezeichnet zu lesen. Obwohl er mir an einigen Stellen inhaltlich nicht viel Neues erzählt hat, habe ich mich dennoch nicht gelangweilt. Ich schwankte bei meiner Bewertung zwischen 4 und 4,5 Sternen, dann kam das letzte Kapitel und da überzeugte mich dann Schmidt vollends. Wenn er von seiner Begegnung mit Marvin Raheem erzählt, der in Baltimore illegal mit seinem „dirt bike“ herumfährt, dann macht er grandios das, was wir alle viel häufiger machen sollten: „Mind your Privileges.“ Selbst die vorherrschenden Männlichkeitsideale bricht er:
„In dem Video von der Spritztour, das Tone gemacht hat und das ich mir seitdem oft angucke, um mich ab und zu meiner eigenen Beta-Männlichkeit zu vergewissern, sehe ich aus wie ein bibberndes Koalababy auf dem Rücken seines Papas bei einer alpinen Schussfahrt.“
Schmidt zeigt so auch trefflich, wie nahbar und eindringlich Reportagen und Sachtexte werden, wenn die Schreibenden als „Ich“ in Erscheinung treten und die Geschehnisse um sich herum ganz transparent bewerten.
Fazit
„This is America“ liefert „kleine Ausschnitte aus einem riesigen Land“, wie der Autor selbst am Ende des Buches schreibt. Die haben mir die USA aber wirklich näher gebracht. Eine Leseempfehlung und 4,5 von 5 Sternen.