Cover des Buches Wolfswechsel (ISBN: B004Y1VBKE)
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Rezension zu Wolfswechsel von David Gray

Rezension zu "Wolfswechsel" von David Gray

von WolfgangB vor 11 Jahren

Rezension

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WolfgangBvor 11 Jahren
Paris 1969. Der polnische Chirurg Dr. Wladislaus Wajda wird im Zuge einer Razzia festgenommen. In der Untersuchungshaft vertraut er sich der Prostituierten Natalie an. Mit den einleitenden Worten "Keiner besitzt je irgendetwas wirklich. Mit einer Ausnahme: seiner Geschichte." erzählt er aus seinem Leben. Erzählt von seinen Tagen in einem KZ. Erzählt, wie er, diesem entkommen, nach einer langen winterlichen Wanderung die Identität eines deutschen Soldaten annimmt. Erzählt, wie er wieder zu empfinden lernt, einen Hauch dessen, was man Liebe nennt. Und wie diese Liebe in einem Krieg, der alles zerstört und nichts erschafft, untergeht. Der Roman ist in zwei ineinander verzahnte Teile gegliedert, die 1969 in Paris angesiedelte Rahmenhandlung und die Haupthandlung, welche aus Wajdas Erzählung seiner Kriegserlebnisse besteht. Dabei wird erste in auktorialer Perspektive, die zweite in der ersten Person aus der Sicht des Protagonisten erzählt. Die sukzessiven Unterbrechungen der Haupthandlung durch den Rahmen ermöglichen Zeitsprünge, im Paris-Erzählstrang entspricht die erzählte Zeit überwiegend der Erzählzeit. Diese Zweiteilung wird vom Autor außerdem auf sprachlicher Ebene fortgesetzt. Der Ton der Rahmenhandlung ist ein ungezwungener leichter Plauderton, der Krieg ist vorüber, zwischen den Worten fühlt der Leser mehr Luft. Dieser Eindruck entsteht durch den Vergleich mit der Sprache, in der Wajda seine Geschichte setzt. Die Worte wirken wie schweres Stapfen durch den Schnee, sind klar und scharfkantig wie Eis. Die Wahl der Perspektiven erweist sich in diesem Kontext als ein weiteres präzise gesetztes Stilmittel. Der Rezipient sieht durch die Augen des Protagonisten, die Distanz zu den Ereignissen der Kriegstage ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Der Erzähler zieht sich behutsam zurück, beschränkt sich darauf, das Beobachtete zu schildern. Indem der Leser mit Wajda verschmilzt, wird die Arbeit der (moralisch-ethischen) Bewertung ohnehin in dessen Bewußtsein verrichtet. Der Autor nimmt seinen Leser nicht an der Hand, sondern stößt ihn vielmehr in die allesbeherrschende Kälte und löst somit den Konflikt um die Notwendigkeit, das Unsagbare zu schildern. Aus dem Stoff der Sprache näht sich David Gray auch das Gewand des Protagonisten, mit dem er sich beim Erzählen bekleidet. Zudem unter einem Pseudonym agierend, verschwindet der Schreiber vollständig in der Identität des mit seelischen Narben versehrten Überlebenden. "Es ist die Gleichgültigkeit, mit der man nicht fertig wird. Die Erkenntnis, daß überall sonst ungerührt die Welt weiterhin ihren gewohnten Takt schlägt." "Anus mundi - am Ende der Welt warten Schmerz, Frost und Vernichtung, keine Engel." "... Existenz heißt da wie überall sonst Gewohnheit. Gewohnheit ist das Einzige, was dich dort vor dem Irrsinn schützt." Mit Zitaten wie diesen dicht gepackt, erweckt der Text den Eindruck, aus einem langen bewegten Leben zu erzählen. Gerade im Umgang mit dem Wahnsinn des Krieges wird somit zwischen den Zeilen auch die Frage aufgeworfen, wie weit das eigene Erinnern gehen muß, um authentisch zu berichten nicht nur in der Lage sondern auch berechtig zu sein. Muß man ihn gesehen haben, um einen Versuch unternehmen zu dürfen, ihm gerecht zu werden? Mit der Darstellung mechanischen Mordens, das Menschen zu Nummern und Tieren auf beiden Seiten des Gewehrlaufes degradiert, mit Figuren, den der Krieg die Seele aus dem Leib brennt, bereichert der Autor diesen Diskurs um eine wertvolle Facette. Dabei widersteht er der Versuchung, den Roman mit einem zwangsläufig scheiternden Resumee abzurunden, sondern beendet ihn mit einer offenen Tür. Und bei all den Schrecken vernimmt der Leser doch ein filigranes Hohelied auf das Leben, das sich in vielen Facetten zu offenbaren versteht. Unter der erzählen Oberfläche verbirgt sich Viktor Frankls "Trotzdem ja zum Leben sagen".
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