September 2002 - Es ist das „Jahr Eins“ nach den Anschlägen der Al-Qaida auf das World Trade Center in New York:
Hamed Karzai ist kurze Zeit zuvor zum Ersten Präsident der afghanischen Übergangsregierung ernannt worden. Bombenabwürfe, Plünderungen und Zerstörungen haben in der Hauptstadt Kabul viele „Wunden“ bei den Menschen, an den Gebäuden und im alltäglichen Leben hinterlassen.
Denn Kabul war seit den 70er Jahren nicht mehr die Hauptstadt der Afghanen, sondern die Herrschaftselite anderer diktatorischer Regierungen (Sowjetunion) und religiös-orientierter Gruppierungen (Taliban) besetzten das Land bis auf die Regierungsebene. Die Paschtunen (historisch Afghanen) und andere hier lebende Volksgruppen wie die Tadschiken wurden seitdem unterdrückt.
Der afghanisch-deutsche Mathematiker Mahboob Martin Malik – Anfang 30 – reist im September 2002 das erste Mal seit seiner Flucht vor über 20 Jahren von Deutschland nach Afghanistan.
Es herrscht Frieden in Afghanistan!?. Die Menschen sind hoffnungsvoll. Die Afghanischen Völker lassen sich niemals von ganzem Herzen beherrschen. Das bedeutet Traditionen und alt-hergebrachte kulturelle Werte und Normen bestimmten und bestimmen heute noch den Umgang der Afghanen miteinander.
Mahboob Martins Leben ist seit seinem neunten Geburtstag geprägt durch deutsche und west-europäische Traditionen und kulturelle Werte. Sogar seinem Vornamen Mahboob hat er offiziell einen deutschen Vornamen beigefügt. Er nennt sich nun in Deutschland „Martin“.
Auch die Stadt Kabul ähnelt nicht mehr der Stadt seiner Kindheit. Seine alte Schule, an deren Wiederaufbau er beteiligt ist, hat durch Bombardierungen riesige Krater im Mauerwerk, kein Mobiliar, keine Toiletten und muss im Winter wegen der Kälte geschlossen werden.
Sein Vater ist krank und begegnet seinem erwachsenen Sohn oft abweisend, oder ist verärgert über die Fragen seines Sohnes. Mahboob Martin kommen oft Zweifel auf, ob die Entscheidung nach Kabul zu kommen, die richtige Entscheidung war. Noch dazu, hat Mahboob Martin am Flughafen in Frankfurt eine Frau kennengelernt, die nun tausende Kilometer von ihm entfernt ist…
Meinung:
Ich glaube, ich war noch nie innerhalb von zwei Sätzen mittendrin im Geschehen, in einer Geschichte, im Leben eines Menschen.
Von Anfang an, hat die Identitätssuche des deutsch-geprägten Afghanen Bilder in meinem Kopf entstehen lassen. Der Autor schaffte es sogar noch weitere meiner Sinne anzuregen. So empfingen meine Nase und meine Geschmacksknospen die Gerüche und den Geschmack von Gewürzen und Speisen, von denen der Ich-Erzähler erzählt.
In Mahboob Martins Erzählungen aus Gegenwart und kindlicher Vergangenheit haben die Autoren Tanja Langer und David Majed alle meine Sinne angeregt. Es waren aber nicht nur angenehme Sinneseindrücke auch die eindrücklichen und emotional-mit-der-Vergangenheit-verbundenen Vergleiche der Stadt Kabul und ihrer Bewohner zwischen Vergangenheit und Gegenwart haben mich nachhaltig beeinflusst. Mich zum Nachdenken gebracht.
Ich habe mir beim Lesen viele Fragen gestellt – Eine davon ist: „Ist der fiktive Protagonist ein erzählerisches-fiktives Beispiel für viele mittlerweile erwachsene Landeskinder dieses jahrzehntelang besetzten Landes, die diese erschreckenden "Umwälzungen" in ihrem Ursprungsland zum Nachdenken über ihre biographischen Ursprüngen, ihre Identität beeinflusst haben?"
Die Antwort gibt der Autor David Majed selber. Majed arbeitet im afghanischen Hochschulministerium und regelt dort die Stipendienvergabe von ausländischen Botschaften und Universitäten. Er sagt dazu: „In der Tat verfügt der literarische Roman "Der Himmel ist ein Taschenspieler über autobiographische Züge. Ich bin wie Mahboob in jungen Jahren mit meiner Familie von Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Und die Identitätsfindungsgeschichte ist ziemlich autobiographisch. Aber das Meiste ist erfunden.“
Die Autoren beschreiben Mahboob Martins Gefühlsleben am Anfang der Geschichte so: „Das Leben hatte ihn (Mahboob Martin) nach rechts gewürfelt und nach links, so nannte er es für sich, und es war immer weiter gegangen, und nun hatte er eine Entscheidung getroffen und war hierhergekommen, nach… Er wollte sehen, ob es mit dem Würfeln ein Ende nähme, denn oft kam er sich hilflos, so dumm, in seinem eigenen Leben. Er wollte sehen, wo er herkam, er wollte vor allem seinen Vater wiedersehen, er hatte Angst, nach so langer Zeit, ob er ihn wiedererkennen würde…“ (Seite 9 und 10)
In diesem autobiographisch beeinflussten fiktiven Roman treffen nicht nur in der Person des Mahboob Martin und der Person seines Vaters, zwei unterschiedliche Charaktere aufeinander, sondern auch gegensätzliche Auffassungen, wie sie in ihrer (eigenen) Welt leben.
Da treffen „respektvolle Langsamkeit" und traditionelle jahrhundertealte afghanische Umgangsweisen zwischen Vater und Sohn, Vorgesetztem und Untergebenen auf einen ernsten und geradlinigen West-Europäer, der Konflikte und Menschen scheut. Martin organisiert gerne alles und hat es gerne ordentlich. Ihm macht, das Unvorhergesehene Angst und die Untätigkeit zermürbt ihn. Nur in der höheren Mathematik sieht er das Ziel seines Seins. Martin liebt Strukturen, sie geben ihm Sicherheit. Doch in Afghanistan sieht er zuerst nur das Fehlen dieser Strukturen, zieht Vergleiche und ist verzweifelt.
Jedoch ist die Figur des Mahboob Martin nicht oberflächlich, sondern er ist ein vielschichtiger Charakter auf der Suche nach seiner Identität, nach seinen Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen.
Im Aufeinandertreffen von Mahboob Martin mit anderen Protagonisten und in seinem Handeln spiegelt sich Unsicherheit und Einsamkeit genauso wie nach und nach Einfühlsamkeit und Reflexion, was seine Persönlichkeit betrifft, wider.
Zusammenfassend kann man sagen: Bei Mahboob Martin wird die Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen - zwei Ländern - zwei Sprachen - zwei Teilen seines Lebens besonders deutlich.
Mahboob Martins Reise nach seinen Ursprüngen, nach seinem vergangenen Leben, seine Reise auf der Suche nach der eigenen Identität und wie diese in der Zukunft weiter bestehen kann, ermöglicht dem Leser auch gut recherchierte, authentische und realistische Einblicke in das Leben in Afghanistan, in die Völker, ihre Kultur und Tradition. Die (jüngste) Afghanische Geschichte und dieses hier erzählte „Bild" von Afghanistan mit all seinen Widersprüchen zwischen Stadt und Land sowie zwischen Afghanistan und Deutschland ist informativ, interessant, bereichernd und intensiv.
Sprache:
Die Worte und tiefgründigen Formulierungen lesen sich gut und flüssig. Ich bin verzaubert von den Worten, die die Autoren in Mahboob Martins Kopf „pflanzen“. Sprichwörter und Verse von persischen Dichtern sind geschriebene Zeugen der afghanischen Kultur der Vergangenheit und Gegenwart. Der Titel des Buches „Der Himmel ist ein Taschenspieler“ ist ein altes afghanisches Sprichwort - Das Schicksal täuscht uns immer wieder.
Die Worte von Langer und Majed sind poetisch, tiefsinnig und bildhaft, wenn wir in den Kopf des Deutschen mit einer kindlich-verklärten afghanischen Vergangenheit blicken. Emotional erzählt wird besonders die Suche Mahboob Martins nach Antworten zu seiner eigenen Vergangenheit. Hierbei ist es nicht nur der verbale Austausch zwischen den Menschen, sondern das Ungesagte, die Mimik, Gestik und die Handlungen, die den Leser emotional berühren, ihn nachdenklich stimmen und ihn weitere Fragen stellen lassen.
Fazit:
Ich habe einen authentischen Protagonisten mit autobiographischen Zügen kennengelernt. Gemeinsam mit ihm habe ich spannende, interessante, tiefgründige und Erkenntnis-reiche zwölf Monate erlebt, und ich hoffe darauf, dass die beiden Autoren die afghanische Geschichte ihrer Kinder und Erwachsenen weitererzählen...