David R. Stone

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Russland und der Erste Weltkrieg

Seit langem weist die militärhistorische Literatur zum Ersten Weltkrieg ein eigenartiges Ungleichgewicht auf. Mit Werken über den Kriegsverlauf an der Westfront kann man ganze Bibliotheken füllen. Bücher zum Kriegsverlauf im Osten Europas, vor allem handliche Überblicksdarstellungen, sind hingegen Mangelware. Wie der amerikanische Militärhistoriker David Stone in der Einleitung seines Buches betont, ist dieses Ungleichgewicht sachlich nicht zu rechtfertigen und schwer nachzuvollziehen. Im Westen führte der Weltkrieg zu minimalen Veränderungen der Grenzverläufe. Mittel- und Osteuropa hingegen wurden durch den Krieg tiefgreifend umgestaltet. Monarchien stürzten, Reiche zerfielen, neue Staaten entstanden. Für die Völker Mittel- und Osteuropas war der Erste Weltkrieg eine einschneidende Zäsur. Für Franzosen, Belgier und Briten lässt sich das nicht behaupten. Die Ostfront war alles andere als ein Nebenschauplatz des Ersten Weltkrieges. Ohne den Krieg wäre die Zarenherrschaft nicht zusammengebrochen, hätten die Kommunisten in Russland nicht an die Macht gelangen können. Wer das Revolutionsjahr 1917 verstehen will, der kommt nicht an der Frage vorbei, welchen Verlauf der Krieg an der Ostfront nahm und wie sich der Krieg auf die inneren Verhältnisse Russlands auswirkte. Mit David Stones Buch liegt eine kenntnisreich geschriebene und gut lesbare Überblicksdarstellung zum Krieg in Osteuropa vor. Stone schildert den Krieg vornehmlich aus russischer Perspektive, bezieht aber auch die Perspektive der Mittelmächte ein. Das Buch konzentriert sich strikt auf das Kriegsgeschehen. Nichtmilitärische Aspekte des Krieges (z.B. Besatzungsherrschaft, Gefangene) werden kaum thematisiert.

Bevor er sich dem Kriegsverlauf zuwendet, erörtert Stone in den beiden ersten Kapiteln den Kriegsausbruch und den Zustand der russischen Streitkräfte am Vorabend des Krieges. Neuere Forschungsarbeiten (Stefan Schmidt, Sean McMeekin, Christopher Clark), die Russlands und Frankreichs Anteil am Kriegsausbruch höher gewichten, als es lange Zeit üblich war, haben in Stones Darstellung keine Spur hinterlassen. Mit entwaffnender Unbekümmertheit weist Stone dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn die Hauptschuld am Kriegsausbruch zu. In seiner Schilderung der Juli-Krise zeigt er das Zarenreich im Wesentlichen in einer reagierenden Rolle; auf Frankreichs Rolle geht er nicht näher ein. Stone führt aus, dass die zarische Armee den Anforderungen eines modernen Krieges im Großen und Ganzen gewachsen war. Nach der Niederlage gegen Japan (1905) wurden die Streitkräfte reorganisiert, vergrößert und mit der neuesten Kriegstechnik ausgestattet. Stone benennt einige Probleme, die der russischen Armee schon zu Friedenszeiten und erst recht im Krieg zu schaffen machten: Das Bildungsniveau der Soldaten, die zu 85% aus dem Bauerntum stammten, war niedrig. Im russischen Vielvölkerreich gab es kein Nationalbewusstsein, das die Bauernsoldaten hätte beflügeln können. Die soziale Basis für die Gewinnung von Offizieren war sehr schmal. Zu guter letzt skizziert Stone den Wandel der Kriegsplanungen des russischen Generalstabes. Waren die Kriegspläne lange Zeit defensiv angelegt, so erfolgte ab 1908 der schrittweise Übergang zu offensiven Kriegsplänen. Das geschah nicht zuletzt auf Drängen des Bündnispartners Frankreich. Im Falle eines deutschen Angriffes auf Frankreich sollte Russland seinen Verbündeten durch eine frühe Offensive gegen Deutschland entlasten.

In den Kapiteln 3 bis 12 bietet Stone einen Überblick des Kriegsverlaufs im Osten zwischen Sommer 1914 und Herbst 1917. Das Buch endet mit dem Ausscheiden Russlands aus dem Krieg nach der Machtergreifung der Bolschewiki. Kapitel 8 ist dem Krieg im Kaukasus gewidmet, Kapitel 9 den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen an der russischen Heimatfront. Somit stehen acht Kapitel zur Verfügung, um das Kriegsgeschehen an den vier Abschnitten der Ostfront zu erörtern: Ostpreußen und Baltikum; Russisch-Polen; Galizien; Rumänien. Das Buch ist als Synthese angelegt. Stone fasst die westliche und russische Forschungsliteratur zum Krieg im Osten zusammen. Eigene Forschungen hat er nur zur russischen Brusilov-Offensive (Sommer 1916) betrieben. Da der Kriegsverlauf an der Ostfront hinlänglich bekannt ist, bietet das Buch keine Überraschungsmomente. Mehrere Karten helfen dem Leser, Stones Ausführungen nachzuvollziehen. Militärische Operationen wie Feldzüge und Schlachten sind in erzählerischer Hinsicht kein leicht zu handhabender Gegenstand für einen Autor. Stone ist jedoch ein erfahrener Militärhistoriker; das kommt dem Buch sehr zugute. Auch ein Leser ohne Faible für Kriegsgeschichte kann Stones Schilderungen problemlos folgen. Die einzelnen Kapitel sind bestimmten Phasen und Schauplätzen des Krieges gewidmet und folgen allesamt dem gleichen Schema: Zunächst erörtert Stone, welche Ziele sich Russland und die Mittelmächte setzen, was sie mit ihren Offensiven zu erreichen suchten. Es folgt eine Schilderung des Kriegsgeschehens (Offensiven und Gegenoffensiven). Abschließend zieht Stone Bilanz: Welches Ergebnis hatten die einzelnen Operationen; wie wirkten sie sich auf die Kampfkraft der Kombattanten und den weiteren Kriegsverlauf aus?

Stone betont, dass die Herrschaft Zar Nikolaus’ II. nicht zusammenbrach, weil die russische Armee vernichtend geschlagen worden wäre. Der Zerfall Russlands ging nicht von der Front aus, sondern vom Hinterland. Doch wie kam es dazu? Stone arbeitet mehrere Faktoren heraus. Russland war genauso wenig auf einen langen Krieg vorbereitet wie die anderen Großmächte. Je länger der Krieg dauerte, desto deutlicher zeigte sich, dass das Zarenreich den enormen militärischen und wirtschaftlichen Herausforderungen nicht gewachsen war. Zwar errangen die russischen Armeen einige Siege, aber kein einziger dieser Siege reichte aus, den Krieg im Osten zu entscheiden. Die russischen Truppen erlitten durchweg unverhältnismäßig hohe Verluste, die sich nur schwer ausgleichen ließen. Russlands unerschöpfliches Reservoir an Soldaten existierte nur auf dem Papier. Unter den russischen Heerführern fehlte es an brillanten Köpfen. In den beiden ersten Kriegsjahren hatte die russische Wirtschaft Mühe, den Materialbedarf der Truppen zu decken. Während die Mittel- und Westmächte ihre Gesellschaften umfassend für den Krieg mobilisierten, belastete und behinderte das angespannte Verhältnis zwischen Autokratie und Zivilgesellschaft die russische Kriegsführung. Zur politischen Krise kam im Winter 1916/17 eine akute Versorgungskrise. Nach der Abdankung des Zaren und der Ausrufung der Republik war an eine effektive Fortführung des Krieges nicht mehr zu denken. Seit der Niederlage Rumäniens, das im Sommer 1916 auf Seiten der Entente in den Krieg eingetreten war, war die Front aus russischer Sicht überdehnt. Zu Tausenden desertierten die kriegsmüden Soldaten. Als Lenin und die Bolschewiki im November 1917 die Macht an sich rissen, gab es keine russische Armee mehr, die den Namen verdiente.

Stone erzählt eine Geschichte, die in Grundzügen jedem vertraut ist, der sich schon einmal näher mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt hat. Das Zarenreich war nicht stark genug, um beide Mittelmächte gleichzeitig niederzuringen. Aber auch den Mittelmächten gelang es nicht, Russland militärisch in die Knie zu zwingen. Mit dieser Pattsituation kamen Deutschland und Österreich-Ungarn besser zurecht als das Zarenreich. Spätestens zur Jahreswende 1916/17 waren Russlands Möglichkeiten erschöpft, in die Offensive zu gehen. Russland konnte allenfalls noch die deutschen und österreichischen Truppen binden, aber keine kriegsentscheidende Wende an der Ostfront mehr herbeiführen. Noch vor der Februarrevolution meuterten die ersten russischen Einheiten. Für den Zaren kam es nicht in Frage, die westlichen Verbündeten im Stich zu lassen und aus dem Krieg auszuscheiden. Das starrsinnige Festhalten am Bündnis mit Frankreich und Großbritannien sollte auch der Provisorischen Regierung zum Verhängnis werden. Die Mittelmächte konnten es sich leisten, auf eine Verschärfung der inneren Krise Russlands zu setzen. Ihre Rechnung ging schließlich auf. Die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die Geschichte Russlands lässt sich kaum überschätzen. Im nächsten Jahr werden sich Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit in Ost und West intensiv mit der russischen Doppelrevolution von 1917 beschäftigen. Wer sich für die Frage interessiert, wie der Erste Weltkrieg zum Zusammenbruch der Monarchie in Russland beitrug, der wird in David Stones Buch kompetente Antworten finden. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im September 2016 bei Amazon gepostet)

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