„In den letzten fünfzehn Jahren hat sich unsere Arbeit in mancher Hinsicht verändert. Der sogenannte CSI-Effekt, also die Auswirkung der Darstellung der Ermittlungsarbeit in Krimis und Serien auf das öffentliche Bild von der Polizeiarbeit, hat die Erwartungen von Geschworenen und Richtern in unzumutbare Höhen getrieben und ist überall zum Fluch der Staatsanwälte geworden. Die Einschüchterung von Zeugen hat zugenommen, und die Kooperationsbereitschaft der Bürger ist zurückgegangen, was nicht überrascht. Gangs haben Baltimore für sich entdeckt. Das Drogenproblem ist keineswegs geringer geworden. Es gibt weniger Dunker (der einfache, offensichtliche und schnell zu lösende Mordfall) und mehr Whodunits (das genaue Gegenteil davon). (…) Doch unterm Strich sind solche Veränderungen von geringer Bedeutung, und die Arbeit eines Detectives ist im Großen und Ganzen immer noch genau so, wie David Simon sie geschildert hat. Sie ist bestimmt von Tatorten, Befragungen und Verhören vor dem Hintergrund menschlicher Schwächen. Und so wird es immer sein.“
So die das Buch abschließenden Worte von Terrence „Terry“ McLarney, Lieutenant des Baltimorer Morddezernats, nur einem der vielen Protagonisten in David Simons True-Crime-Werk „Homicide – Ein Jahr auf mörderischen Straßen“, dessen Veröffentlichung in Deutschland fast genau zwei Jahrzehnte (und meiner Ansicht nach damit viel zu lange!) auf sich warten ließ. Eins davon hat inzwischen auch McLarneys Schlusswort auf dem Buckel und dennoch sei es dieser Besprechung vorangestellt, fasst es doch die Entwicklung der Ostküsten-Metropole nicht nur treffend zusammen, sondern auch den „ewigen Kreislauf der Scheiße“ (Richard Price, „Clockers“), in dem sich zwar die beruflichen Begleitumstände und Bedingungen im Wandel der Zeit geändert haben, die Arbeit für den Mordermittler aber immer noch dieselbe geblieben ist. Und sie ist es, welche Simon – aus dessen Buch nicht nur die gleichnamige Serie „Homicide“ (1993-1999) entstand, sondern der auch verantwortlich für die Realisierung solcher TV-Schwergewichte wie „The Wire“ oder „Treme“ zeichnet – in seiner literarischen Reportage in den Vordergrund stellen wollte.
Im Jahr 1988 begann Simon mit seinem Projekt. Von Januar bis Dezember schloss er sich – sonst Reporter bei der „Baltimore Sun“ – den Polizisten der Mordkommission (Homicide) aus Baltimore unter der Leitung von Detective Lieutenant Gary D'Addario an, begleitete sie bei ihren Einsätzen und Ermittlungen, lauschte an der Tür zum Verhörraum, notierte ihre Gespräche, trank mit ihnen und nahm gar an einer Autopsie mit anschließendem Mittagessen teil – wurde damit also zu einem „Embedded Journalist“, wie man ihn sonst eher aus Kriegsgebieten kennt. Das war Baltimore zu diesem Zeitpunkt zwar nicht – sechs Jahre früher hielt der so genannte „Barksdale Krieg“ (thematisch aufgegriffen in „The Wire“) die Stadt in Atem – die Mordrate inzwischen aber weiterhin kontinuierlich gestiegen und am 31. Dezember 1988 sollte die weiße Tafel im Versammlungsraum der Homicide Section 234 Morde verzeichnen. (Nur zum Vergleich: 2015 wurden 344 gezählt. Und das obwohl die Bevölkerung seit den frühen 90er Jahren über 100.000 Einwohner verloren hat) Schon diese Zahl verdeutlicht, was der Job eines Detectives in erster Linie ist – tagtägliche Fließbandarbeit, die wenig bis nichts mit dem Bild der Polizei gemein hat, was viele TV-Krimiserien und Filme uns in der Regel verkaufen wollen. Ein unrealistisches Bild, das, so lernen wir hier, inzwischen auch das amerikanische Justizsystem bedroht, da es dadurch immer schwieriger wird, Geschworene zu bekommen, die für ihre Aufgabe tatsächlich geeignet sind bzw. verstehen, dass es eben nicht möglich ist, jeden vor Gericht gebrachten Fall mittels DNA-Analyse, Fingerabdrücken, Mordwaffe, Motiv und Zeugen abzusichern.
Nicht selten scheitern genau deshalb Anklagen, was umso härter trifft, als der Leser über 800 Seiten erfahren muss, mit welcher Härte und Hingabe die Ermittler ihre Aufgabe nachgehen, wohl wissend, dass die Mühe durchaus umsonst sein kann. Die Realität – sie ist hart, sie ist ernüchternd und sie ist weit schmerzhafter als es jegliche Fiktion sein könnte. Und sie verändert diejenigen, welche sich jeden Tag damit konfrontiert sehen. Ein guter Detective – das wird man nicht innerhalb kurzer Zeit und schon gar nicht hinter dem Schreibtisch. Das muss in „Homicide“ vor allem Tom Pellegrini erfahren, der gleich zu Beginn seiner Karriere bei der Mordkommission mit einem so genannten „Red-Ball“ konfrontiert wird – einem Tötungsdelikt, dem höchste Aufmerksamkeit gilt. In diesem Fall ist dies Latonya Wallace. Ein elfjähriges Mädchen, auf dem Weg von der Bibliothek nach Hause brutal umgebracht und in einem schäbigen Hinterhof im Stadtteil Reservoir Hill abgelegt. Selbst für die abgebrühten und abgestumpften Ermittler ist dies ein Mord, der längst verloren geglaubte Gefühle weckt. Und für David Simon auch das perfekte Beispiel anhand dem er das Auf und Ab dieses Berufs, das Arbeitspensum, die Gleichgültigkeit der Zeugen und in vielen Phasen auch die Hilflosigkeit des Justizsystems dokumentiert. Während andere Ermittler, wie der alte Donald „Big Man“ Worden sich mit einer Schusswaffenbeteiligung eines Polizisten herumschlagen müssen oder Rich Garvey mit einer unverschämten Glückssträhne zehn Fälle hintereinander löst, quält sich Pellegrini, anfangs noch von einer Vielzahl von Personal unterstützt, irgendwann komplett allein durch die Akten. Sichtet Beweise neu, untersucht den vermeintlichen Tatort und die Umgebung ein drittes und ein viertes Mal. Wartet auf Laborauswertungen. Und ruft immer wieder den „Fish Man“ aufs Revier – einen älteren Bewohner aus der Nachbarschaft, der bereits in den 50ern wegen eines Sexualdelikts angeklagt worden und bekannt dafür ist, einen Blick auf junge Mädchen zu werfen. Er ist Pellegrinis Hauptverdächtiger. Doch wie ihn überführen?
David Simons Reportage ist fernab vom Glanz und Gloria und auch weit davon entfernt, ein Loblied auf den guten, aufrechten Cop zu singen. Stattdessen lässt er uns einen Blick auf eine Gruppe von unterschiedlichen Menschen und Charakteren werden, die verschiedene Talente aufweisen, mal mehr, mal weniger sympathisch daherkommen. Männer, unterbezahlt, überarbeitet und aufgrund vieler rassistischer und homophober Witze nicht immer wirklich gesellschaftsfähig. Und dennoch deshalb nicht gleich Rassisten oder Schwulenhasser. Es sind Männer, die vollkommen in ihrer Arbeit aufgehen, nur selten ein Ventil für ihren Frust finden, Lob nicht zu erwarten haben und denen in den meisten Fällen selbst von denjenigen, denen sie geholfen haben, Abneigung entgegengebracht wird. Das differenzierte Bild, welches wir dank Simon hier erkennen können, zeigt – vielleicht zum ersten Mal im Genre des „True Crime“ – unverwässert und ohne literarische Ausschmückung, was es heißt, Tag ein, Tag aus, der Arbeit als Detective nachzugehen. Es zeigt die gesundheitlichen und familiären Folgen. Es zeigt, dass Motive in einem Mord weit weniger wichtiger sind, als uns die Rätsel-Krimis weismachen wollen. Und es zeigt, dass Glück und Scheitern in diesem Beruf eng zusammenliegen.
Es gibt drei Säulen jeder Mordermittlung. Spuren. Zeugen. Geständnisse. Und es gibt die zehn goldenen Regeln eines Mordermittlers (in der aufwändig und schön gestalteten Kunstmann-Ausgabe auf dem Lesezeichen aufgedruckt), von denen die letzte vielleicht die wichtigste und am schwersten zu akzeptierende ist:
„Es gibt ihn, den perfekten Mord.“
„Homicide“ - das ist vor allem ein unverdaulicher Brocken. Ein Buch, das sich dem „Page-Turning“ verweigert, das die Aufmerksamkeit des Lesers vollkommen beansprucht und auch dessen seelische Resistenz auf die Probe stellt. Die Nüchternheit, wenn auch immer gepaart mit einen schwarzen, beißenden Humor, sie bestimmt die Szenerie. An einem Spannungsbogen, an künstlerischer Dramatik – an all dem war David Simon nicht gelegen, wodurch die Lektüre Zeit und Geduld einfordert. Und auch das Verstehen, wie kostbar und – vor allem zum damaligen Zeitpunkt – einmalig die Einblick sind, die man uns hier gewährt, was wiederum insofern bemerkenswert ist, da sie nicht immer ein moralisch gutes Licht auf die Mordkommission von Baltimore werfen. Da werden Geständnisse ohne Beisein eines Anwalts ertrickst, Zeugen beeinflusst und – wenn ein gar Kollege zu Schaden kam – auch mal deutlichere Argumente verteilt, um einfach Dampf vom Kessel zu lassen oder jemanden zum Reden zu bringen. Wenngleich an dieser Stelle betont sei: So etwas passiert Simons Erfahrung nach tatsächlich höchst selten. Nicht aufgrund von Zimperlichkeit, sondern vor allem weil es sich bei den meisten Verdächtigen um Drogenhändler und unverbesserliche Kleinkriminelle handelt, für die kein Cop seine Karriere riskiert. „Irgendwann“, so die häufige Einstellung, „werden wir eh ein paar weiße Kreidestriche um deinen Arsch malen.“
Würde ich diesem nachhaltig beeindruckenden und prägenden Werk ein Attribut verleihen müssen, es wäre wohl Ehrlichkeit. David Simon ist der natürlichen Versuchung, sich in dem einen Jahr mit seinen neuen „Kollegen“ zu eng zu verbrüdern, nicht erlegen. Dennoch duldeten und akzeptierten sie ihn an seiner Seite, wohl wissend, dass dabei Dinge ans Licht kommen würden, die ihrer Behörde Schwierigkeiten bereiten konnten. Welche das im einzeln letztlich tatsächlich waren, erläutert Simon in seinem äußerst informativen Nachwort, das nicht nur die Parallelen zwischen dem Niedergang des Journalismus und an Funktion orientierter Polizeistrukturen herausarbeitet, sondern auch gleichzeitig schon eine kleine Brücke zu „The Corner“, Simons zweitem größerem „True-Crime“-Bericht schlägt, den er gemeinsam mit dem Ex-Detective Ed Burns (ehemaliger Partner des eigenwilligen Harry Edgerton, einem weiteren wichtigen Protagonisten von „Homicide“) schrieb und welcher sich auf den Drogenhandel und seine Auswirkungen an einer bestimmten Straßenecke konzentriert. Fans von „The Wire“ (übrigens die beste TV-Produktion, die ich jemals gesehen habe) vermuten richtig, wenn sie hier die Ursprünge der Serie vermuten.
Norman Mailer sagt über Homicide: „Das beste Buch, das je ein amerikanischer Autor über die Ermittler eines Morddezernats geschrieben hat.“
Dem sei an dieser Stelle einfach nichts mehr hinzugefügt.
David Simon
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von David Simon
Homicide
Liebe heilt alles
The Corner
Homicide
Edinburgh Castle: Die Burg Von Edinburgh
Homicide
Homicide: A Year On The Killing Streets
Neue Rezensionen zu David Simon
»In einer Polizeibehörde mit zirka dreitausend vereidigten Cops gehörst du zu den sechsunddreißig, die mit der Verfolgung des schlimmsten Verbrechens überhaupt beauftragt sind: dem Raub eines Menschenlebens. Du bist die Stimme der Toten. Der Rächer der Verschiedenen. Dein Gehaltsscheck kommt vielleicht von der Stadtverwaltung, aber, verdammt, nach sechs Bier glaubst du irgendwann selbst, dass du eigentlich im Dienst des Herrn unterwegs bist.«
David Simon, Reporter und Drehbuchautor, durfte ein Jahr lang als „Praktikant“ das Morddezernat von Baltimore während seiner Arbeit begleiten. Das Ergebnis ist eine packende Reportage, die mich über 800 Seiten lang ans Buch gefesselt hat.
Der Bericht startet am 19. Januar 1988, während einer Nachtschicht, mit Mordopfer Nummer 13 des noch jungen Jahres. Im Laufe der Nacht wird Mord Nummer 14 hinzukommen und am 31. Dezember 1988 wird der Zähler ermordeter Menschen in Baltimore bei 234 angekommen sein.
Wer glaubt, sich die tatsächliche Arbeit eines Morddezernats vorstellen zu können, weil er viele Krimis gelesen oder entsprechende Filme gesehen hat, der wird hier eines besseren belehrt. Die Realität kommt hart und ungeschminkt rüber und man ahnt schon nach den ersten Abschnitten, weshalb sich alle Detectives ständig mit markigen Sprüchen und dreckigen Witzen gegenseitig übertrumpfen wollen und ein Trinkgelage nach dem nächsten stemmen.
Der Leser fühlt sich erschlagen von der Vielzahl der Opfer, der Gleichgültigkeit, mit der Zeugen auf Gesehenes reagieren und ist beeindruckt, welches enorme Arbeitspensum die Detectives auf sich nehmen. Und das, obwohl sie nicht mal sicher sein können, dass ein Täter, der von ihnen überführt und verhaftet wurde, auch tatsächlich verurteilt wird. Mal ganz zu schweigen von den Prioritäten, die die Ermittler bei ihrer Arbeit beachten müssen…
»Natürlich darf der Polizeichef nur dann überhaupt Luft holen, wenn er die Bedürfnisse des Bürgermeisters erfüllt hat, der viel entspannter über seine Wiederwahl sinnieren kann, wenn Sein höchsteigenes Polizeipräsidium Ihn nicht mit Peinlichkeiten oder Skandalen belästigt, Ihm höchstpersönlich zu Diensten ist und im Interesse des Gemeinwohls das Verbrechen bekämpft – ungefähr in dieser Reihenfolge.« (Man beachte auch die Großschreibung von „Ihm“)
Der Leser erfährt so einiges über „Red Balls – Morde, die zählen." Es geht um Statistik, Kriminalitätsberichte und Aufklärungsquoten, vor dem geistigen Auge (und auch auf einigen Fotos) sieht man sich auftürmende Aktenberge. Wieviel kleinteilige und mühselige Schreibtischarbeit in den Ermittlungen steckt, lässt sich für einen Außenstehenden kaum erahnen.
David Simon führt den Leser an die Arbeit der Mordermittler heran, stellt dazu „Die drei Säulen jeder Mordermittlung – Spuren. Zeugen. Geständnisse.“ und „Die zehn goldenen Regeln eines Mordermittlers“ vor. Als Krimileser ist man erstaunt, wie wenig Bedeutung in der Realität dem Motiv beigemessen wird! Weiter geht es mit Verhörtaktiken, den Abläufen vor Gericht und vielem, vielem mehr.
Auch kritische Blicke fehlen nicht, wenn es um Themen wie Rassismus, Homophobie, Gewaltausübung durch Polizisten und den Schusswaffengebrauch geht. Ich war erstaunt, mit welcher Ehrlichkeit sich die Detectives äußersten, mit welcher Freimütigkeit sie den Journalisten an ihrer Seite tolerierten. Im lesenswerten Anhang wird dargestellt, wie Simon in seine „Praktikantenrolle“ hineinwuchs, sich anpasste und einlebte und so vom anfänglichen Störenfried zum kaum noch wahrgenommenen Schatten wurde.
Kleine Warnung noch am Rande: So viel Realität ist reichlich desillusionierend und nicht immer leicht zu verdauen. Es wird blutig, nicht nur an den Tatorten, sondern auch bei den Autopsien. Und im Gegensatz zum normalen Krimi wird nicht jeder Mord aufgeklärt, gibt es auch grausame Kindermorde, die auf Dauer bei den „unerledigten“ Fällen verbleiben. (Punkt 10 der zehn goldenen Regeln: „Es gibt ihn, den perfekten Mord.“)
Und noch ein Nachtrag zur Statistik: Im Jahr 1989 wurden in Baltimore 262 Menschen ermordet, im Jahr darauf 305. Die Spitze wurde 1993 mit 353 Toten erreicht. Nach wie vor hat Baltimore bei ca. 620.000 Einwohnern eine der höchsten Mordraten der USA.
Fazit: Hart, gesellschaftskritisch, realistisch - ein ungeschönter Einblick in die Polizeiarbeit.
»Das Morddezernat ist die Oberliga, die ganz große Arena, die wahre Show. So war es schon immer. Als Kain seinen Bruder Abel um die Ecke brachte, glauben Sie bloß nicht, dass der Alte da oben ein paar uniformierte Grünschnäbel zu den Ermittlungen schickte. Verdammt, nein, er holte einen Detective. Und so wird es auch immer bleiben, denn das Morddezernat jeder großstädtischen Polizei ist seit Menschengedenken das natürliche Habitat einer ganz seltenen Spezies: das des denkenden Cop.«
Das Morddezernat ist die Oberliga, die ganz große Arena, die wahre Show. So war es schon immer. Als Kain seinen Bruder Abel um die Ecke brachte, glauben Sie bloß nicht, dass der Alte da oben ein paar uniformierte Grünschnäbel zu den Ermittlungen schickte. Verdammt, nein, er holte einen Detective. Und so wird es auch immer bleiben, denn das Morddezernat jeder großstädtischen Polizei ist seit Menschengedenken das natürliche Habitat einer ganz seltenen Spezies: das des denkenden Cop. (S.39-40)
Baltimore war Ende der 1980er eine der amerikanischen Großstädte mit der höchsten Mordrate. Im Jahr 1988 wurden 234 Morde aufgenommen. Autor David Simon begleitete ein Jahr lang die Detectives der Mordkommission. Er zeigt in seinem Buch die Normalität der Gewalt hart und ungeschönt, verzichtet dabei auf Erklärungsansätze. Stattdessen zeichnet er ein umfassendes Bild der Polizeiarbeit, die er in allen Facetten beschreibt. Die Polizisten werden am Tatort, bei der mühsamen Suche nach Zeuge, bei Verhören und Vernehmungen, in der Rechtsmedizin bis hin zur Gerichtsverhandlung beobachtet.
Autor David Simon war bereits mehrere Jahre Polizeireporter der „Baltimore Sun“, als er die Erlaubnis bekam, für das gesamte Jahr 1988, lange vor der Erfindung des „embedded journalist“, uneingeschränkten Zugang zu einer Schicht des Morddezernats des Baltimore Police Department zu erhalten. 12 Monate lang begleitete er die 15 Detectives und 3 Detective Sergeants der Schicht von Lieutenant Gary D'Addario. 1991 erscheint „Homicide – A Year on the Killing Streets“ Das Buch gewann 1992 den Edgar Award und wurde ein Jahr später auch fürs Fernsehen adaptiert. David Simon wurde dadurch ein erfolgreicher Drehbuchautor, u.a. später für die Serie „The Wire“.
David Simon erzählt die Erlebnisse in einem nüchtern-lakonischen, stellenweise auch zynischem Ton. Er erzählt von „Dunkern“, Fälle, die ohne Mühe gelöst werden, weil es ausnahmsweise Augenzeugen gibt oder der Mörder quasi neben der Leiche verhaftet wird. Dann gibt es aber genügend „Whodunits“, bei dem die Detectives harte Arbeit verrichten müssen. Bei Morden im Drogenmilieu und in den heruntergekommenen Stadtteilen sind schon Zeugenbefragungen ein äußerst hartes Brot. Schließlich gibt es noch die „Red Balls“, öffentlichkeitswirksame Morde, oft an Kindern, bei denen die gesamte Abteilung unter großem Druck steht und eine Aufklärung fest erwartet wird. Ein solcher „Red Ball“ bildet das Rückgrat des Buches. Der Sexualmord an der elfjährigen Latonya Wallace beschäftigt Detective Pellegrini über das ganze Jahr. Er hat sich relativ schnell an einem Verdächtigen festgebissen, aber nicht genügend Indizien beisammen, und so kommt er das ganze Jahr zu diesem Fall zurück.
Eine Katharsis machen im Vernehmungsraum nur die wenigsten Verdächtigen durch, in der Regel nur, wenn es um Beziehungsmord oder Kindesmissbrauch geht. Da kommt es vor, dass jemand, der noch kein abgestumpfter Verbrecher ist, unter der bleiernen Last echter Reue zusammenbricht. Doch der Großteil der Frauen und Männer, die ins Präsidium gebracht werden, hat kein Interesse an einer Absolution. Ralph Waldo Emerson bemerkte zu Recht, dass für den Schuldigen der Akt des Tötens „kein so niederschmetternder Gedanke ist wie für den Dichter und Romancier; er beunruhigt ihn nicht und schreckt ihn nicht so sehr, dass er ihn auch von seinen alltäglichen banalen Gedanken abhielte.“ Und obwohl West Baltimore Welten von dem Nest in Massachusetts des 19. Jahrhunderts entfernt ist, in dem Emerson viele Jahre seines Lebens verbrachte, hat seine Beobachtung ihre Gültigkeit nicht verloren. Mord beunruhigt die meisten Menschen nicht sonderlich. In Baltimore verdirbt er ihnen nicht einmal den Tag. (S.274-275)
Die Mordermittlung beschreibt der Autor als Königsdisziplin der Polizei, dementsprechend hat er vor den Detectives großen Respekt, möglicherweise auch hier und da zu großen. Dennoch schildert er die Polizeiarbeit mit einer faszinierenden Authentizität und zeigt wie viel Arbeit, Mühe, aber auch Glück zu einer erfolgreichen Ermittlung gehört. Dabei werden die zahlreichen Enttäuschungen, die zu der Arbeit eines Polizisten aber ebenso beschrieben. Simon gelingt außerdem eine intensive Innenansicht der Mordkommission. Der Zusammenhalt, die moralische Integrität, aber auch die Sticheleien, Rivalitäten sowie ein derber Humor und ein unterschwelliger Rassismus. Das Privatleben der Ermittler bleibt jedoch außen vor, Simon bleibt höchstens bis zum Feierabendbier.
Eine faszinierende Langzeitreportage über die Arbeit einer Mordkommission und eine scharfe Beobachtung der alltäglichen Gewalt auf Amerikas Straßen. Umfangreich, detailliert, aber niemals langweilig. Unbedingt lesen!
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