Rezension zu "Richelieu and Mazarin: A Study in Statesmanship (European History in Perspective)" von David Sturdy
Andreas_OberenderDie Kardinäle Richelieu und Mazarin gehören zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der französischen Geschichte des 17. Jahrhunderts. Für mehr als drei Jahrzehnte, von 1624 bis 1661, lenkten die beiden "Prinzipalminister" die Geschicke des Königreiches, zu einer Zeit, als die französische Monarchie vor großen innen- und außenpolitischen Herausforderungen stand. Richelieus und Mazarins unmittelbare Zusammenarbeit währte nur wenige Jahre. Dennoch ist es sinnvoll, die Amtszeiten beider Minister zusammen zu untersuchen. Richelieus und Mazarins Karrieren und politische Tätigkeit weisen viele Ähnlichkeiten auf. Mazarin setzte ein Werk fort, das Richelieu begonnen hatte. So unbestreitbar diese Tatsache auch ist, so schwierig ist die wissenschaftliche Beurteilung dieses Werkes. Die Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts schrieb den beiden Kardinälen eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des sogenannten Absolutismus und bei Frankreichs Aufstieg zur Hegemonialmacht in Westeuropa zu. Französische, deutsche und auch angelsächsische Historiker waren sich lange Zeit darin einig, dass Richelieu und Mazarin konsequent drei Ziele verfolgt hätten: Stärkung des Königtums, Zähmung und Entmachtung des Adels, Kampf gegen die habsburgische "Umklammerung". Besonders Richelieus Innen- und Außenpolitik wurde ein hohes Maß an Rationalität, Planmäßigkeit und Zielstrebigkeit unterstellt. Viele Autoren stilisierten den Kardinal zum Schöpfer des modernen französischen Nationalstaates. Der britische Historiker David Sturdy zieht das traditionelle Bild von den Kardinalministern als Wegbereitern des Absolutismus und des Nationalstaates in Zweifel. Er ist überzeugt, dass frühere Historikergenerationen die Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten beider Kardinäle überschätzt hätten. In seiner Studie lenkt er den Blick auf Sachzwänge und strukturelle Faktoren, die dem Gestaltungsspielraum beider Minister deutliche Grenzen setzten. Sturdy ist der Ansicht, dass die beiden Minister kein kohärentes politisches "Programm" verfolgt, sondern eher von Fall zu Fall auf unvorhersehbare Ereignisse und schwer kontrollierbare Prozesse reagiert hätten. Wie schon in seiner Studie über Ludwig XIV., die 1998 ebenfalls in der Buchreihe "European History in Perspective" erschienen ist, spricht sich Sturdy gegen die Verwendung des Absolutismus-Begriffes aus.
Im ersten Kapitel erörtert Sturdy Aspekte, die bei einer Analyse von Richelieus und Mazarins Werdegang und politischer Tätigkeit berücksichtigt werden müssen: Die fragile Autorität der Krone während der Minderjährigkeit und Jugend Ludwigs XIII. und Ludwigs XIV.; die Ansprüche des Hochadels auf Teilhabe an der Regierung; die Funktionsweise von Staat und Verwaltung im Zentrum und in den Provinzen; das antiquierte Steuersystem und die daraus resultierende chronische Finanznot der Monarchie; das Verhältnis zwischen der Krone und Körperschaften wie den Parlamenten (Gerichtshöfen) und Ständeversammlungen. Die verwirrende Komplexität der politischen und administrativen Verhältnisse in einem Königreich, das von moderner Zentralstaatlichkeit noch weit entfernt war, verlangte von Richelieu und Mazarin ein hohes Maß an Flexibilität und "Managmentfähigkeit". Sturdy stellt klar, dass die beiden Kardinäle keine Modernisierer waren. Zu keinem Zeitpunkt hatten sie den Ehrgeiz, Verwaltung, Justiz und Finanzwesen grundlegend umzugestalten und qualitativ weiterzuentwickeln. Beide Minister arrangierten sich so gut es ging mit den historisch gewachsenen Strukturen, die sie vorfanden. Spätestens nach dem Eintritt Frankreichs in den Dreißigjährigen Krieg (1635) waren innenpolitische Reformen ohnehin nicht mehr möglich. Für ein Vierteljahrhundert, bis zum Pyrenäenfrieden von 1659, waren alle Anstrengungen der Monarchie darauf gerichtet, den Krieg mit den Habsburgern zu gewinnen. Wenn Richelieu gegen aufsässige Adlige vorging, dann nicht aufgrund eines vorgefassten "Planes", die Aristokratie zu disziplinieren und politisch zu marginalisieren. Sturdy betont immer wieder, dass viele von Richelieus Maßnahmen kontingenter Natur waren, also ein bloßes Reagieren auf Ereignisse und Vorfälle. Nach den Wirren während der Kindheit und Jugend Ludwigs XIII. war für Richelieu eine Stärkung der Monarchie vor allem in Hinblick auf die Lösung aktueller Probleme nötig. Die Zukunft spielte im Kalkül des Kardinals kaum eine Rolle. Die von der älteren Forschung postulierte Weiterentwicklung des französischen Staates hin zum Absolutismus hatte Richelieu nicht im Sinn.
Sturdy geht chronologisch und vergleichend vor. In den Kapiteln 2 bis 7 analysiert er Richelieus Karriere und politische Tätigkeit. Die Kapitel 8 bis 12 sind Richelieus Mitstreiter und Nachfolger Kardinal Mazarin gewidmet. Meisterhaft beherrscht Sturdy die Kunst, mit einem Minimum an Worten ein Maximum an Informationen zu vermitteln. Trotz seines knappen Umfanges ist das Buch ergiebig und erhellend. Was das Leben der beiden Kardinäle und das allgemeine historischen Geschehen angeht, so beschränkt sich Sturdy auf die wichtigsten Angaben. Einige Leitfragen strukturieren den Text: Wie vollzog sich der Aufstieg der beiden Kardinäle, welche Faktoren waren dabei im Spiel? Wie operierten Richelieu und Mazarin in dem politischen System, das sie vorfanden, und wie gelang es ihnen, sich so ungewöhnlich lange an der Macht zu halten? Welche Prioritäten hatten sie in der Innen- und in der Außenpolitik? Welche konkreten Leistungen sind ihnen anzurechnen? Angeschnitten werden auch Aspekte wie politische Patronage und Netzwerkbildung, Mäzenatentum sowie der Einfluss religiöser Überzeugungen und intellektueller Strömungen der Zeit auf das Politikverständnis der Kardinäle. Im dreizehnten und letzten Kapitel zieht Sturdy Bilanz. Mehrere Motive stehen dabei im Vordergrund: Richelieus und Mazarins Bemühen um stabile innere Verhältnisse und eine Stärkung der Monarchie war in erster Linie von den Erfordernissen der Außenpolitik bzw. des Krieges diktiert. Die Kardinäle wollten die Dominanz der Habsburger brechen und dadurch Frankreichs Sicherheit erhöhen. Für dieses Ziel nahmen sie enorme Kosten und Risiken in Kauf. Die wachsende Steuerlast führte immer wieder zu Revolten. Dennoch hielten beide Minister unbeirrt an ihrem Kurs fest. Als 1659 der Frieden mit Spanien geschlossen wurde, hatte sich Frankreichs außenpolitische Situation gegenüber früheren Zeiten deutlich verbessert. Die Habsburger waren nicht geschlagen, aber geschwächt. Darin besteht Richelieus und Mazarins wichtigste Leistung. Folgt man Sturdy, so spielten abstrakte Konzepte wie "Staat" und "Staatsräson" im Denken der Kardinäle kaum eine Rolle. Richelieu und Mazarin begriffen sich nicht als Diener des Staates, sondern des Königs. Ähnlich wie andere Prinzipalminister ihrer Zeit waren sie ganz vom Vertrauen der Monarchen abhängig. Sie waren Akteure in einem vormodernen, gering institutionalisierten politischen System, das von personalen Beziehungen getragen wurde. Gegen Kritiker und Feinde konnten sich Richelieu und Mazarin nur behaupten, weil Ludwig XIII. und Ludwig XIV. in entscheidenden Momenten zu ihnen hielten. Beide Minister waren keine "Revolutionäre", am allerwenigsten auf dem Feld der Innenpolitik. Richelieu erzielte nur einen nennenswerten Erfolg, die politische und militärische Neutralisierung der Hugenotten. Er starb, bevor seine Außen- und Kriegspolitik Früchte trug. Mazarin hinterließ Ludwig XIV. zwar weitgehend geordnete Verhältnisse, aber keine Instrumente, die dem jungen König absolutistisches "Durchregieren" ermöglicht hätten.
David Sturdys Studie ist eine exzellente Einführung in die politische Geschichte Frankreichs während der Amtszeit der beiden Kardinalminister. Das Buch ist sehr gut geeignet als Einstiegslektüre für alle, die sich intensiver mit Richelieu und Mazarin beschäftigen wollen. Besonders reizvoll ist das Buch, weil Sturdy die lange Zeit unerschütterliche Forschungsmeinung in Frage stellt, Richelieu und Mazarin seien die Schöpfer des Absolutismus gewesen, ja mehr noch, die Ahnherrn des modernen französischen Nationalstaates. Die Kardinäle waren Staatsmänner der Frühen Neuzeit. Sie betrieben dynastische Politik, keine nationale Politik. Sie dienten der Monarchie, nicht der Nation. Ähnlich wie Sturdys Buch über Ludwig XIV. ist auch diese Studie empfehlenswert als anregende Lektüre- und Diskussionsgrundlage für den universitären Seminarbetrieb.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Februar 2016 auf Amazon gepostet)