Cover des Buches Die geheime Bibliothek von Daraya (ISBN: 9783710900426)
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Rezension zu Die geheime Bibliothek von Daraya von Delphine Minoui

Die Kraft der Bücher

von Igelmanu66 vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Dieses Buch sollte jeder lesen! Sehr intensive und beeindruckende Schilderung – und die Kraft der Bücher ist schlicht faszinierend!

Rezension

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Igelmanu66vor 6 Jahren

»Es ist ein ungewöhnliches Bild. Eine rätselhafte Aufnahme aus der syrischen Hölle, ohne jede Spur von Blut oder Kugeln. Zwei Männer im Profil, umgeben von Wänden aus Büchern. Der eine beugt sich über einen in der Mitte aufgeschlagenen Band. Der andere blickt suchend in ein Regal. Sie sind jung, um die zwanzig, der erste trägt eine Trainingsjacke, der zweite eine Baseballkappe. Das künstliche Licht, das in dem fensterlosen Raum auf ihre Gesichter fällt, verstärkt noch den befremdlichen Eindruck der Szene. Wie ein vorsichtiges Atemholen in den Zwischenräumen des Krieges.«

Mit diesem Foto, das sie im Internet entdeckt hatte, begann es. Delphine Minoui, französisch-iranische Journalistin und Nahost-Expertin, wollte mehr wissen, wollte ergründen, wer und was hinter dem Foto steckt. Sie wurde fündig.

Daraya, ein rebellischer Vorort von Damaskus, wird ab 2012 eingekesselt und bombardiert. Während der folgenden vier Jahre versuchten die eingeschlossenen Bewohner, irgendwie zu überleben, dem täglichen Hunger und den täglichen Bomben zu trotzen. Wie fängt man es an, da nicht den Verstand zu verlieren?

Eine Gruppe junger Männer fand einen ungewöhnlichen Weg. Aus den Trümmern der zerstörten Stadt retteten sie Tausende von Büchern und errichteten damit in einem unterirdischen Versteck eine Bibliothek, die allen Einwohnern zugänglich ist. Die Akzeptanz ist groß, im Schnitt wagen sich pro Tag 25 Nutzer dorthin, eine wirklich beeindruckende Zahl, wenn man sich vergegenwärtigt, dass man sein Leben riskieren muss, wenn man ein Buch ausleihen will. Auch einer der Leiter der Bibliothek wurde auf dem Weg Opfer einer abgeworfenen Fassbombe, überlebte nur knapp und schwerstverletzt.

Delphine Minoui stand bei ihren Recherchen vor dem Problem, dass es nicht möglich war, nach Daraya hineinzukommen. Die einzige mögliche Verbindung bestand in einer wackligen Internetleitung. Auf diese Weise stand sie über Jahre hinweg, manchmal rund um die Uhr, mit Rebellen und Aktivisten in Kontakt, meist per Skype oder WhatsApp. Sie sprach mit Dutzenden von ihnen, erhielt regelmäßig Fotos und Videos. Immer wieder beschreibt sie, wie das Bild ihres Gegenübers auf dem Bildschirm plötzlich wackelt und verzerrt wird, weil wieder einmal in der Nähe eine Bombe einschlug, immer wieder hört sie die Detonationen im Hintergrund.

Deutlich merkt man, wie all das die Autorin berührt, ein Abschalten im normalen Alltag ist kaum noch möglich. Die Gespräche mit den jungen Männern beeindrucken sie sehr, vieles von dem, was sie sagen, zitiert sie wörtlich. Das kann den Leser nicht kalt lassen. Unglaublich, wie Menschen es in solchen Situationen schaffen, ruhig zu bleiben! Friedlich zu bleiben, sich nicht von Hass und Verzweiflung forttragen zu lassen. Ihnen helfen die Bücher, sie bieten Ablenkung, die Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen. Auch Kämpfer gehören zu den regelmäßigen Lesern, in Feuerpausen greifen sie zum Buch…

»Der Krieg ist pervers, er verändert die Menschen, er tötet die Emotionen, die Ängste, die Furcht. Wenn man in den Krieg zieht, sieht man die Welt anders als zuvor. Das Lesen lenkt uns ab, es hält uns am Leben. Wenn wir lesen, dann vor allem, um Menschen zu bleiben.«

Gestaunt habe ich auch über die Wahl der Lektüre, neben der erwähnten Ablenkung ist in hohem Maß Bildung angesagt! Da werden Sachbücher verschlungen und psychologische Ratgeber, es wird über die im Dunkeln gehaltene Vergangenheit geforscht. Hoch im Kurs stehen auch Erfahrungsberichte von Menschen, die ebenfalls in Krisensituationen steckten. Man muss sich vorstellen, dass Menschen versteckt in Kellern sitzen und lesen, während über ihnen Bomben einschlagen…

»Die Bibliothek ist ihre verborgene Festung, die sie vor den Bomben schützt. Und die Bücher sind ihre Massenbildungswaffe.«

Die Errichtung der Bibliothek war ein Projekt zur Rettung des kulturellen Erbes, das Lesen wird zu einem Projekt des Widerstands. Und stets bleibt das Ziel vor Augen, der Wunsch nach Leben, Freiheit und Demokratie. In jedes Buch wurde auf die erste Seite der Name des Besitzers geschrieben, um es zurückgeben zu können, wenn der Krieg vorbei ist.

Nach vier Jahren Aushungern war es vorbei mit Daraya, nach Saringas und manchmal bis zu 80 Fassbomben täglich, erhielt die Stadt den Todesstoß: Napalm.

»Es ist also vorbei?«
»Natürlich nicht! Man kann eine Stadt zerstören. Aber Ideen nicht!«

Im Buch finden sich eine große Übersichtskarte von Syrien und ein Innenteil mit sehr berührenden Farbfotos.

Fazit: Dieses Buch sollte jeder lesen! Man darf nicht vergessen, was in Syrien geschieht. Sehr intensive und beeindruckende Schilderung – und die Kraft der Bücher ist schlicht faszinierend!

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