Es gibt Menschen, die sich auf klare, nüchterne Weise so gehaltvoll ausdrücken können, wie es andere es auf prätentiöse Weise nie schaffen werden. Dass Delphine de Vigan zu diesen Menschen gehört, hat sie mit "No et moi" bewiesen. Ihre Sätze sind nicht immer einfach gestrickt, teilweise sehr metaphorisch, aber immer verständlich.
Denn "No et moi" erzählt die Geschichte von Lou Bertignac, einem hochbegabten Mädchen, das auf die Obdachlose No trifft und beschließt ihr zu helfen. Das Geschehen wird aus ihrer Perspektive erzählt und die Autorin hat mit ihrem Stil den Nagel auf den Kopf getroffen. Er passt unglaublich gut zu Lou, mit ihrer intelligenten, einfühlsamen, etwas schüchternen und ruhigen Art. Sie beschreibt alles sehr bildlich, genau wie sie die Dinge sieht, wodurch man jegliche Szenen genau vor Augen hat. Zu nah lässt den Leser allerdings nicht an die Handlung heran, dafür springt sie oft viel zu schnell von Ereignis zu Ereignis. Den roten Faden etwas lose zu halten, fand ich von Delphine de Vigan gut gewählt, denn das verleiht dem Ganzen umso mehr den Eindruck es wirklich mit der Perspektive eines jungen Mädchens, das ihren Platz im Leben noch nicht so recht gefunden hat, zu lesen.
Für ihre 13 Jahre benimmt sie sich bereits sehr erwachsen, was auf verschiedene Ursachen zurückzuführen ist. Zum einen hat sie mit familiären Problemen zu kämpfen, zum anderen muss sie sich als Schülerin der "seconde" muss sie sich als Außenseiterin in einer Klasse voll älterer Schüler behaupten. Ihre Ängste und Probleme werden ebenso realistisch, wie nachvollziehbar dargelegt, so dass Lou eine absolut sympathische Protagonistin ist, mit der man sich gut identifizieren kann.
Parler je n'aime pas trop ça, j'ai toujours l'impression que les mots m'échappent, [...], ce n'est pas une question de vocabulaire ni de défintion, parce que des mots j'en connais pas mal, mais au moment de les dire ils se troublent, se dispersent, c'est pourquoi j'évite les récrits et les discours, je me contente de répondre aus questions que l'on me pose, je garde pour moi l'excédent, l'abondance, ces mots que je multiplie en silence pour approcher la vérité.
Während sich Lou wie ein offenes Buch lesen lässt, bleibt No, eigentlich Nolwenn, die meiste Zeit über ein Mysterium, weil ihre Vergangenheit nur Schritt für Schritt beleuchtet wird. Auch wenn man schließlich mehr über sie erfährt, bleibt No ein vollkommen undurchsichtiger, schwer einschätzbarer Charakter.
No gibt zahllosen Obdachlosen ein Gesicht. Ihre Geschichte lässt niemanden kalt. Die Autorin weiß, wie sie schreiben muss, um Leute zum nachdenken zu bewegen. Da gibt es keine Melodramatik, kein Mitleidheischen um das arme Mädchen, das das Schicksal vieler junger Frauen teilt. Es ist die brutale Realität, die so sehr berührt, die nicht mehr los lässt. Es ist die Aktualität und Allgegenwärtigkeit der Problematik, als auch deren Umsetzung im Buch, die "No et moi" derart lesenswert machen.
Gelesenes kann man nicht ungelesen machen und man überlegt, wie oft man eigentlich schon an Leuten in ähnlicher Situation vorbeigegangen ist, ohne sich ernsthafte Gedanken über sie zu machen.
Wegen des ganzen Kummers, den beide Mädchen erlebt haben, ist es umso schöner zu sehen, wie sie sich anfreunden. das Leben hat schließlich auch seine schönen Seiten.
Beiden ist die Freundschaft wertvoll und kostbar und während No einen Anker in Lou findet, wächst vor allem letztere dadurch über ihre Grenzen hinaus.
Sie will die Dinge nicht einfach hinnehmen, wie sie sind. Lou sieht die gesellschaftliche Ungleichheit und will etwas ändern, etwas besser machen.
Je pense à l'égalité, à la fraternité, à tous ces trucs qu'on apprend à l'école et qui n'existent pas. On ne devrait pas faire croire aux gens qu'ils peuvent être égaux ni ici ni ailleurs.
"No et moi" überzeugt sowohl sprachlich, als auch inhaltlich. Ein Adoleszenzroman, über Freundschaft und soziale Ungerechtigkeit, den man auf jeden Fall lesen sollte!